E.M. Remarque
gepreßt, den
Mund offen, die Augen verständnislos starr.
Er starb zwei Stunden später. Eine davon schrie er.
Ravic erinnerte sich,
wie sie zurückgekommen waren. Er hatte stumpf und verstört in der Baracke
gesessen. Es war das erstemal, daß er so etwas gesehen hatte. Katczinsky hatte
ihn da gefunden, der Gruppenführer, Schuhmacher im Privatleben. »Komm mit«,
hatte er gesagt. »In der Bayernkantine gibt es heute Bier und Schnaps. Wurst
auch.« Er hatte ihn angestarrt. Hatte solche Roheit nicht begriffen. Katczinsky
hatte ihn eine Weile beobachtet, hatte dann gesagt: »Du kommst mit. Und wenn ich
dich hinprügeln sollte. Du wirst heute fressen und saufen und in einen Puff
gehen.« Er hatte nicht geantwortet. Katczinsky hatte sich neben ihn gesetzt.
»Ich weiß, was los ist. Ich weiß auch, was du jetzt über mich denkst. Aber ich
bin zwei Jahre hier und du zwei Wochen. Hör zu! Können wir noch etwas für
Meßmann tun? – Nein. – Glaubst du, daß wir alles riskieren würden, wenn eine
Chance da wäre, ihn zu retten?« – Er hatte aufgeblickt. Ja, das wußte er. Er
wußte das von Katczinsky. »Gut. Er ist tot. Wir können nichts mehr machen. Aber
in zwei Tagen müssen wir wieder ’raus und nach vorn. Diesmal wird es nicht so
ruhig da sein. Wenn du jetzt hier hockst und an Meßmann denkst, frißt du es in
dich ’rein. Es macht deine Nerven kaputt, wirst unsicher. Gerade genug
vielleicht, daß du beim nächsten Feuerüberfall draußen nicht schnell genug
bist. Halbe Sekunde zu spät. Dann schleppen wir dich wie Meßmann zurück. Wem
nützt das? Meßmann? Nein. Jemand anderem? Nein. Dich haut es um, das ist alles.
Verstehst du nun?« – »Ja, aber ich kann nicht.« – »Halt’s Maul, du kannst!
Andere haben es auch gekonnt. Du bist nicht der erste.«
Es war besser geworden nach dieser Nacht. Er war
mitgegangen, er hatte seine erste Lektion gelernt. Hilf, wenn du kannst – tu
alles dann –; aber wenn du nichts mehr tun kannst, vergiß! Dreh dich um! Halt
dich fest! Mitleid ist etwas für ruhige Zeiten. Nicht, wenn es ums Leben geht.
Begrabe die Toten und friß das Dasein! Du wirst es noch brauchen müssen. Trauer
ist eines, Tatsachen sind ein anderes. Man trauert nicht weniger, wenn man
trotzdem die Tatsachen sieht und anerkennt. Nur so überlebt man.
Ravic trank den Kognak aus. Die Franzosen am Nebentisch
schwatzten immer noch über ihre Regierung. Über das Versagen Frankreichs. Über
England. Über Italien. Über Chamberlain. –
Worte, Worte. Die einzigen, die handelten, waren die
anderen. Sie waren nicht stärker, nur entschlossener. Sie waren nicht mutiger;
sie wußten nur, daß die anderen nicht kämpfen würden. Aufschub, aber was tat
man damit? Rüstete man, holte man nach, raffte man sich auf? Man sah zu, wie
die andern weiterrüsteten – und wartete, hoffte untätig auf neuen Aufschub. Die
Geschichte der Walroßherde. Hunderte am Strand; zwischen ihnen der Jäger, der
eines nach dem andern mit der Keule erschlug. Zusammen konnten sie ihn leicht
erdrücken – aber sie lagen da, sahen ihn kommen, morden und rührten sich nicht;
er erschlug ja nur gerade den Nachbarn – einen Nachbarn nach dem andern. Die
Geschichte der europäischen Walrosse. Das Abendrot der Zivilisation. Müde,
gestaltlose Götterdämmerung. Die leeren Banner der Menschenrechte. Der
Ausverkauf eines Kontinents. Anbrandende Sintflut. Krämergeschäftigkeit um die
letzten Preise. Der alte Jammertanz auf dem Vulkan. Völker, wieder einmal
langsam auf die Schlachtbank getrieben. Die Flöhe würden sich schon retten,
wenn das Schaf geopfert wurde. Wie immer.
Ravic drückte seine Zigarette aus. Er blickte sich um.
Was sollte das alles? War der Abend nicht wie eine Taube gewesen vorhin, wie
eine weiche, graue Taube? Begrabe
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