E.M. Remarque
dem drüben.«
Er verabschiedete sich von Alvarez und ging auf sein
Zimmer.
Das Zimmer war aufgeräumt und leer. Joan war fort. Er sah
sich um. Sie hatte nichts hinterlassen. Er hatte es auch nicht erwartet.
Er klingelte. Das Mädchen kam nach einer Weile. »Die Dame
ist fort«, sagte es, bevor er fragen konnte.
»Das sehe ich selbst. Woher wissen Sie denn, daß jemand
hier war?«
»Aber Herr Ravic«, sagte das Mädchen, ohne weiter etwas
hinzuzufügen, mit einem Gesicht, als sei ihre Ehre schwer beleidigt worden.
»Hat sie Frühstück gehabt?«
»Nein. Ich habe sie nicht gesehen. Ich hätte sonst schon
daran gedacht. Ich weiß das doch von früher.«
Ravic sah es an. Der Nachsatz gefiel ihm nicht. Er zog
ein paar Frank hervor und steckte sie dem Mädchen in die Schürzentasche.
»Schön«, sagte er. »Machen Sie es das nächstemal ebenso. Bringen Sie nur
Frühstück, wenn ich es Ihnen ausdrücklich sage. Und kommen Sie nicht zum
Aufräumen, bevor Sie genau wissen, daß das Zimmer leer ist.«
Das Mädchen lächelte vertraut. »Sehr wohl, Herr Ravic.«
Er blickte ihm unbehaglich nach. Er wußte, was es dachte.
Es glaubte, Joan sei verheiratet und wolle nicht gesehen werden. Früher hätte
er darüber gelacht. Jetzt gefiel es ihm nicht. Warum eigentlich nicht, dachte
er. Er zuckte die Achseln und ging zum Fenster. Hotels waren Hotels. Man konnte
das nicht ändern.
Er öffnete das Fenster. Ein wolkiger Mittag stand über
den Häusern. Spatzen schrien in den Dachrinnen. Einen Stock tiefer zankten zwei
Stimmen. Es mußte die Familie Goldberg sein. Der Mann war zwanzig Jahre älter
als die Frau. Getreidehändler en gros aus Breslau. Die Frau hatte ein
Verhältnis mit dem Emigranten Wiesenhoff. Sie glaubte, daß niemand das wußte.
Der einzige, der es nicht wußte, war Goldberg.
Ravic schloß das Fenster. Er hatte morgens eine
Gallenblase operiert. Eine anonyme Gallenblase für Durant. Ein Stück
unbekannten, männlichen Bauch, den er für Durant aufgeschnitten harte.
Zweihundert Frank Honorar. Danach war er bei Kate Hegström gewesen. Sie hatte Fieber.
Zuviel Fieber. Er war eine Stunde dagewesen. Sie hatte unruhig geschlafen. Es
war nichts Außergewöhnliches. Aber es hätte besser nicht sein sollen.
Er starrte durch das Fenster. Das sonderbare, leere
Gefühl des Nachher. Das Bett, das nichts mehr sagte. Der Tag, der das Gestern
unbarmherzig zerriß wie ein Schakal das Fell einer Antilope. Die Wälder der
Nacht, zauberhaft in der Dunkelheit hochgeschossen, schon wieder endlos
entfernt, eine Fata Morgana nur noch über der Wüste der Stunden …
Er wandte sich ab. Auf einem Tisch fand er die Adresse
Lucienne Martinets. Sie war vor kurzem entlassen worden. Sie hatte keine Ruhe
gegeben. Er war vor zwei Tagen bei ihr gewesen. Es war nicht nötig, sie schon
wieder zu sehen; er hatte nichts weiter zu tun und beschloß, hinzugehen.
Das Haus lag in der Rue Clavel. Zu ebener Erde lag eine
Schlächterei, in der eine mächtige Frau das Beil schwang und Fleisch verkaufte.
Sie war in Trauer. Der Mann war vor zwei Wochen gestorben. Jetzt regierte die
Frau das Geschäft mit einem Gesellen. Ravic sah sie im Vorbeigehen. Sie schien
einen Besuch vorzuhaben. Sie trug einen Hut mit einem langen, schwarzen
Kreppschleier und hackte für eine Bekannte aus Gefälligkeit rasch noch ein
Schweinebein ab. Der Schleier wehte über das offene Schwein, das Beil blitzte
und krachte hernieder.
»Mit einem Schlag«, sagte die Witwe befriedigt und warf
das Bein auf die Waage.
Lucienne wohnte im obersten Stock in einem kleinen Zimmer
unter dem Dach. Sie war nicht allein. Ein Bursche von etwa fünfundzwanzig
Jahren lungerte auf einem Stuhl herum. Er hatte eine Radfahrermütze auf und
rauchte eine selbstgedrehte
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