E.M. Remarque
werde in den nächsten Tagen hingehen. Haben Sie
keine Angst.« Ravic zog seinen Mantel an. »Was ist denn?« fragte er. »Weshalb
wollen Sie aufstehen?«
»Bobo. Sie kennen ihn nicht.«
Er lächelte. »Ich glaube, ich kenne schlimmere. Bleiben
Sie nur liegen. Nach dem, was ich gesehen habe, brauchen wir keine Sorge zu
haben. Auf Wiedersehen, Lucienne. Ich komme bald wieder.«
Ravic drehte den
Schlüssel und die Klinke zur selben Zeit und öffnete rasch die Tür. Niemand
stand auf dem Flur. Er hatte es auch nicht erwartet; er kannte Bobos Typ.
In der Schlächterei unten stand jetzt der Geselle, ein
gelbgesichtiger Mensch ohne die Passion der Wirtin. Er hackte lustlos herum.
Seit dem Trauerfall war er bedeutend müder geworden.
Seine Chance, die Meisterin zu heiraten, war gering. Ein
Bürstenbinder gegenüber im Bistro erklärte das laut und auch, daß sie ihn
vorher ebenfalls zum Friedhof bringen würde. Der Geselle habe bereits stark
verloren. Die Witwe aber sei mächtig aufgeblüht. Ravic trank einen Cassis und
zahlte. Er hatte geglaubt, Bobo in dem Bistro zu treffen; aber Bobo war nicht
da.
Joan Madou kam aus der Tür der Scheherazade. Sie
öffnete die Tür des Taxis, in dem Ravic wartete. »Komm«, sagte sie. »Laß uns
weg von hier. Wir wollen zu dir.«
»Ist etwas passiert?«
»Nein. Nichts. Ich habe nur genug vom Nachtklubleben.«
»Einen Augenblick.« Ravic winkte die Blumenverkäuferin,
die vor dem Eingang stand, heran. »Muttchen«, sagte er. »Gib mir alle deine
Rosen. Was kosten sie? Aber sei nicht wahnsinnig.«
»Sechzig Frank. Für Sie. Weil Sie mir das Rezept für den
Rheumatismus gegeben haben.«
»Hat es genützt?«
»Nein. Kann es auch nicht, solange ich die Nacht im
Nassen stehe.«
»Sie sind der vernünftigste Patient, den ich im Leben
getroffen habe.«
Er nahm die Rosen. »Hier ist eine Entschuldigung, weil du
heute morgen allein aufwachen mußtest und kein Frühstück bekommen hast«, sagte
er zu Joan und packte die Blumen auf den Boden des Taxis.
»Willst du noch etwas trinken?«
»Nein. Wir wollen zu dir. Leg die Blumen hierher auf den
Sitz. Nicht auf den Boden.«
»Sie liegen da gut. Man soll Blumen lieben, aber nicht zu
viele Umstände mit ihnen machen.«
Sie wendete rasch den Kopf. »Du meinst, was man liebt,
soll man nicht verwöhnen?«
»Nein. Ich meine nur, daß man schöne Dinge nicht
dramatisieren soll. Im Augenblick ist es außerdem besser, wenn keine Blumen
zwischen uns liegen.«
Joan blickte ihn einen Moment zweifelnd an. Dann erhellte
sich ihr Gesicht. »Weißt du, was ich heute getan habe? Ich habe gelebt. Wieder
gelebt. Ich habe geatmet. Wieder geatmet. Ich war da. Wieder da. Zum ersten
Male. Ich habe wieder Hände. Und Augen und einen Mund.«
Der Chauffeur manövrierte das Taxi in der schmalen Straße
aus den anderen Wagen heraus. Dann fuhr er mit einem Ruck an. Der Stoß warf
Joan gegen Ravic. Er hielt sie einen Augenblick in seinen Armen und fühlte sie.
Es war wie ein warmer Wind, als wehte sie ihn an und schmelze die Krusten des
Tages hinweg, die sonderbare, abwehrende Kühle in ihm, während sie dasaß und
sprach, hingerissen von ihrem Gefühl und von sich selbst.
»Den ganzen Tag – es strömte, als wären überall Brunnen,
es warf sich mir über den Nacken und gegen die Brust, als müßte ich grün werden
und Blätter treiben und Blüten – es hielt mich und hielt mich und hielt mich
und ließ mich nicht los – und da bin ich nun – und du ...«
Ravic sah sie an. Sie saß vorgebeugt auf dem schmutzigen
Ledersitz, und ihre Schultern leuchteten aus ihrem schwarzen Abendkleid. Sie
war offen und unbedenklich und ohne Scham, sie sagte, was sie fühlte, und er
kam sich ärmlich und trocken gegen sie vor.
Ich habe operiert, dachte er. Ich habe dich vergessen
gehabt. Ich war bei Lucienne. Ich
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