E.M. Remarque
wie mit vielen Händen, und es war plötzlich unerträglich, daß sie
nebeneinander standen, auf Füßen, schmalen Plattformen, lächerlich
aufgerichtet, balancierend; anstatt es zu vergessen und niederzusinken, dem
Schluchzen der Haut nachzugeben, dem Ruf hinter den Jahrtausenden, als es das
alles noch nicht gab, Gehirn und Fragen und Qual und Zweifel – nur das dunkle Glück
des Blutes …
»Komm«, sagte er.
Sie gingen durch den feinen Regen die leere, graue Straße
entlang, und plötzlich, als sie an das Ende kamen, lag der Platz wieder mächtig
und ohne Grenzen vor ihnen, und schwebend, hoch, hob sich das schwere Grau des
Arc aus dem fließenden Silber.
9
9 Ravic
ging zum Hotel zurück. Joan Madou hatte morgens noch geschlafen, als er
weggegangen war. Er hatte geglaubt, in einer Stunde zurück zu sein. Jetzt war
es drei Stunden später.
»Hallo, Doktor«, sagte jemand, der ihm auf der Treppe zum
zweiten Stock begegnete.
Ravic sah den Mann an. Ein blasses Gesicht, ein Busch
wilder, schwarzer Haare, eine Brille. Er kannte ihn nicht.
»Alvarez«, sagte der Mann. »Jaime Alvarez. Erinnern Sie
sich nicht?«
Ravic schüttelte den Kopf.
Der Mann bückte sich und streifte ein Hosenbein hoch.
Eine lange Narbe lief vom Schienbein aufwärts zum Knie. »Erinnern Sie sich
jetzt?«
»Habe ich das operiert?«
Der Mann nickte. »Auf einem Küchentisch hinter der Front.
In einem provisorischen Lazarett von Aranjuez. Kleine, weiße Villa in einem
Mandelhain. Erinnern Sie sich nun?«
Ravic spürte plötzlich den schweren Geruch der
Mandelblüten. Er roch ihn, als käme er die dunkle Treppe herauf, faulig,
unentwirrbar gemischt mit dem süßeren und fauleren von Blut.
»Ja«, sagte er. »Ich erinnere mich.«
Die Verwundeten hatten auf der mondhellen Terrasse
gelegen, in Reihen nebeneinander. Ein paar deutsche und italienische Flugzeuge
hatten das fertiggebracht. Kinder, Frauen, Bauern, zerrissen von
Bombensplittern. Ein Kind ohne Gesicht; eine schwangere Frau, aufgerissen bis
zur Brust; ein alter Mann, der die Finger der Hand, die ihm weggeschmettert
waren, ängstlich in der andern hielt, weil er glaubte, man könne sie wieder
annähen. Über allem der schwere Nachtgeruch und der klare, fallende Tau.
»Ist das Bein wieder ganz in Ordnung?« fragte Ravic.
»Ungefähr. Ich kann es nicht voll biegen.« Der Mann
lächelte. »Es war gut genug, um über die Pyrenäen damit zu kommen. Gonzales ist
tot.«
Ravic wußte nicht
mehr, wer Gonzales war. Aber er erinnerte sich jetzt an einen jungen Studenten,
der ihm geholfen hatte. »Wissen Sie, was aus Manolo geworden ist?«
»Gefangen. Erschossen.«
»Und Serna? Der Brigadekommandeur?«
»Tot. Vor Madrid.« Der Mann lächelte wieder. Es war ein
starres, automatisches Lächeln, das plötzlich kam und ohne jede Emotion war.
»Mura und La Pena sind gefangen worden. Erschossen.«
Ravic wußte nicht mehr, wer Mura und La Pena waren. Er
hatte Spanien nach sechs Monaten verlassen, als die Front durchbrachen war und
das Lazarett aufgelöst wurde.
»Carnero, Orta und Goldstein sind im
Konzentrationslager«, sagte Alvarez. »In Frankreich. Blatzky ist auch sicher.
Versteckt hinter der Grenze.«
Ravic erinnerte sich nur noch an Goldstein. Es waren zu
viele Gesichter damals gewesen. »Wohnen Sie jetzt hier im Hotel?« fragte er.
»Ja. Wir sind vorgestern eingezogen. Drüben.« Der Mann
zeigte auf die Zimmer im zweiten Stock. »Wir waren lange im Lager unten an der
Grenze. Sind endlich ’rausgelassen worden. Wir hatten noch Geld.« Er lächelte
wieder. »Betten. Richtige Betten. Gutes Hotel. Sogar Bilder von unseren Führern
an den Wänden.«
»Ja«, sagte Ravic ohne Ironie. »Das muß angenehm sein,
nach all
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