E.M. Remarque
silbergrau
über den Häusern. Die kahlen Bäume griffen wie schwarze Hände von Toten durch
den Asphalt. In verschütteten Schützengraben hätte man manchmal solche Hände
gesehen. Er öffnete das Fenster und sah hinaus. Die Stunde der Unrealität,
schwebend zwischen Tag und Nacht. Die Stunde der Liebe in den kleinen Hotels –
für Leute, die verheiratet waren und abends würdig der Familie präsidierten.
Die Stunde, in der die Italienerinnen der Lombardischen Tiefebene schon
begannen, felicissima notte zu sagen. Die Stunde der Verzweiflung und die
Stunde der Träume.
Er schloß das Fenster. Das Zimmer schien plötzlich viel
dunkler geworden zu sein. Schatten waren hereingeflogen und hockten in den
Winkeln, voll von lautlosem Geschwätz. Die Kognakflasche, die Rolande gebracht
hatte, leuchtete wie ein polierter Topasquarz auf dem Tisch. Ravic stand einen
Augenblick – dann ging er hinunter.
Der Musikapparat spielte, und der große Raum war bereits
hell erleuchtet. Die Mädchen saßen in ihren rosa Seidenhemden in zwei Reihen
auf den gepolsterten Puffs. Alle hatten die Brüste frei. Die Kunden wollten
sehen, was sie kauften. Ein halbes Dutzend war schon da. Meistens Kleinbürger
mittleren Alters. Es waren die vorsichtigen Fachleute, die wußten, wann die
Untersuchung war, und sie kamen um diese Zeit, um absolut keinen Tripper zu
riskieren. Yvonne war mit ihrem Alten. Er saß an einem Tisch, mit einem
Dubonnet vor sich. Sie stand neben ihm, einen Fuß auf einem Stuhl, und trank
Champagner. Sie bekam zehn Prozent von der Flasche. Der Mann mußte sehr
verrückt sein, daß er das spendierte. Es war eine Sache für Ausländer. Yvonne
war sich dessen bewußt. Sie hatte eine Haltung wie ein leutseliger
Zirkusdompteur.
»Fertig, Ravic?« fragte Rolande, die an der Tür stand.
»Ja. Alles in Ordnung.«
»Willst du etwas trinken?«
»Nein, Rolande. Ich muß zum Hotel. Habe bis jetzt
gearbeitet. Ein heißes Bad und frische Wäsche – das ist alles, was ich jetzt
brauche.«
Er ging an der Garderobe neben der Bar vorüber hinaus.
Der Abend stand mit violetten Augen vor der Tür. Einsam und eilig summte ein
Flugzeug über den blauen Himmel. Ein Vogel zwitscherte schwarz und klein auf
dem obersten Ast eines der kahlen Bäume.
Eine Frau mit Krebs, der in ihr fraß wie ein augenloses,
graues Tier; ein Krüppel, der seine Rente ausrechnete – eine Hure mit einem
goldbringenden Hintern – die erste Drossel im Geäst –; das glitt und glitt, und
jetzt ging er, unbewegt von dem allem, langsam durch die Dämmerung, die nach
warmem Bett roch, zu einer Frau.
»Willst du noch einen Calvados?«
Joan nickte. »Ja, gib mir noch etwas.«
Ravic winkte dem Mâitre d’Hôtel. »Gibt es noch einen
älteren Calvados als diesen?«
»Ist dieser nicht gut?«
»Doch. Aber vielleicht haben Sie noch einen anderen im
Keller.«
»Ich will sehen.«
Der Kellner ging zur Kasse, an der die Wirtin mit ihrer
Katze schlief. Von dort verschwand er hinter einer Tür mit einer
Milchglasscheibe, hinter der der Patron mit seinen Rechnungen hauste. Nach
einer Weile kam er mit wichtiger, gesammelter Miene zurück und ging, ohne zu
Ravic hinüberzusehen, die Treppe zum Keller hinunter.
»Es scheint zu klappen.«
Der Kellner kam mit
einer Flasche zurück, die er wie ein Wickelkind in den Armen hielt. Es war eine
schmutzige Flasche; nicht eine der malerisch verkrusteten für Touristen,
sondern einfach eine sehr schmutzige Flasche, die viele Jahre im Keller gelegen
hatte. Er öffnete sie vorsichtig, beroch den Korken und holte dann zwei große
Gläser.
»Mein Herr«, sagte er zu Ravic und schenkte ein paar
Tropfen ein.
Ravic nahm das Glas und atmete den Duft ein. Dann trank
er, lehnte sich zurück und nickte. Der Kellner
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