E.M. Remarque
sie, »wenn man ein paar Wochen im Bett gelegen hat und wieder
gehen kann.«
»Sie brauchen nicht mehr hierzubleiben, wenn Sie nicht
wollen. Sie können im ›Lancaster‹ wohnen, wenn Sie eine Schwester mitnehmen.«
Kate Hegström schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier, bis
ich reisen kann. Hier bin ich vor allzu vielen Daisys geschützt.«
»Werfen Sie sie ’raus, wenn sie kommen. Nichts ist
anstrengender als Geschwätz.«
Sie streckte sich vorsichtig im Bett aus. »Können Sie
sich denken, daß diese Daisy trotz ihrer Klatschereien eine großartige Mutter
ist? Sie erzieht ihre beiden Kinder ausgezeichnet.«
»Das kommt vor«, erklärte Ravic ungerührt.
Sie zog die Decke über sich. »Eine Klinik ist wie ein
Konvent«, sagte sie. »Man lernt die einfachsten Sachen wieder schätzen. Gehen,
Atmen, Sehen.«
»Ja. Das Glück liegt nur um uns herum. Wir brauchen es
bloß aufzuheben.«
Sie sah ihn an.
»Ich meine das wirklich, Ravic.«
»Ich auch, Kate. Nur einfache Dinge enttäuschen nie. Und
mit Glück kann man gar nicht weit genug unten anfangen.«
Jeannot lag im Bett, einen Haufen Broschüren über die
Decke verstreut.
»Warum machst du kein Licht?« fragte Ravic.
»Ich kann noch genug sehen. Ich habe gute Augen.«
Die Broschüren waren Beschreibungen künstlicher Beine.
Jeannot hatte sie sich auf alle mögliche Weise besorgt. Seine Mutter hatte ihm
die letzten gebracht. Er zeigte Ravic einen besonders farbigen Prospekt. Ravic
drehte das Licht an. »Dieses ist das teuerste«, sagte Jeannot.
»Es ist nicht das beste«, erwiderte Ravic.
»Aber es ist das teuerste. Ich werde der Versicherung
erklären, daß ich es haben muß. Ich will es natürlich überhaupt nicht haben.
Die Versicherung soll es nur bezahlen. Ich will einen Holzstumpf haben und das
Geld.«
»Die Versicherung hat Vertrauensärzte, die alles
kontrollieren, Jeannot.«
Der Junge richtete sich auf. »Meinen Sie, daß sie mir
kein Bein bewilligen werden?«
»Doch. Vielleicht nicht das teuerste. Aber sie werden dir
nicht das Geld geben; sie werden dafür sorgen, daß du es wirklich bekommst.«
»Dann muß ich es nehmen und sofort zurückverkaufen. Dabei
verliere ich natürlich. Glauben Sie, daß zwanzig Prozent Verlust genug sind?
Ich werde es zuerst mit zehn anbieten. Vielleicht kann man mit dem Händler
vorher reden. Was geht es die Versicherung an, ob ich das Bein nehme? Bezahlen
muß sie es; alles andere kann ihr doch egal sein – oder nicht?«
»Natürlich. Du kannst es ja einmal versuchen.«
»Es würde etwas ausmachen. Wir könnten für das Geld schon
die Theke und eine Ausstattung für eine kleine Cremerie kaufen.« Jeannot lachte
verschmitzt. »So ein Bein mit Gelenk und allem ist Gott sei Dank ziemlich
teuer. Präzisionsarbeit. Das ist gut.«
»War schon jemand von der Versicherung da?«
»Nein. Für das Bein und die Abfindung noch nicht. Nur für
die Operation und die Klinik. Müssen wir einen Rechtsanwalt nehmen? Was glauben
Sie? Es war rotes Licht! Ganz bestimmt! Die Polizei ...«
Die Schwester kam mit dem Abendessen. Sie stellte es auf
den Tisch neben Jeannot. Der Junge sagte nichts, bis sie fort war. »Es gibt
hier viel zu essen«, sagte er dann. »So gut habe ich es nie gehabt. Ich kann es
nicht allein aufessen. Meine Mutter kommt immer und ißt den Rest. Es ist genug
für uns beide. Sie spart so. Das Zimmer hier kostet ohnedies sehr viel.«
»Das bezahlt die Versicherung. Es ist ganz gleich, wo du
liegst.«
Ein Schimmer huschte über das graue Gesicht des Jungen.
»Ich habe mit Doktor Veber gesprochen. Er gibt mir zehn Prozent. Die Rechnung
für das, was es kostet, schickt er an die Versicherung. Die bezahlt es; aber er
gibt mir zehn Prozent in bar zurück.«
»Du bist tüchtig, Jeannot.«
»Man muß tüchtig sein, wenn man arm ist!«
»Das stimmt. Hast du
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