E.M. Remarque
Schmerzen?«
»Im Fuß, den ich nicht mehr habe.«
»Das sind die Nerven, die noch da sind.«
»Ich weiß. Komisch, trotzdem. Daß man Schmerzen hat in
etwas, das nicht mehr da ist. Vielleicht ist die Seele von meinem Fuß noch da.«
Jeannot grinste. Er hatte einen Witz gemacht. Dann deckte er die oberen
Schüsseln seines Abendessens ab. »Suppe, Huhn, Gemüse, Pudding. Das ist was für
meine Mutter. Sie ißt gern Huhn. Haben wir nicht oft gehabt zu Hause.« Er legte
sich behaglich zurück. »Manchmal wache ich nachts auf und denke, wir müßten
hier alles selbst bezahlen. Wie man nachts so denkt, im ersten Augenblick. Dann
erinnere ich mich, daß ich hier liege wie ein Sohn von feinen Leuten, und habe
ein Recht, alles zu verlangen, und kann Schwestern klingeln, und sie müssen
kommen, und andere Leute müssen das alles bezahlen. Großartig, was?«
»Ja«, sagte Ravic.
»Großartig.«
Er saß im Untersuchungszimmer der »Osiris«. »Ist noch
jemand da?« fragte er.
»Ja«, sagte Leonie. »Yvonne. Sie ist die letzte.«
»Schick sie herein. Du bist gesund, Leonie.«
Yvonne war fünfundzwanzig Jahre alt, fleischig, blond,
mit einer breiten Nase und den kurzen, dicken Händen und Füßen vieler Huren.
Sie schaukelte selbstzufrieden herein und hob den seidenen Fetzen, den sie
trug, hoch.
»Dorthin«, sagte Ravic.
»Geht es nicht so?« fragte Yvonne.
»Warum?«
Statt zu antworten, drehte sie sich schweigend um und
zeigte ihren kräftigen Hintern. Er war blau von Striemen. Sie mußte eine
furchtbare Tracht Prügel von jemand bekommen haben.
»Ich hoffe, der Kunde hat dich gut dafür bezahlt«, sagte
Ravic. »So was ist kein Spaß.«
Yvonne schüttelte den Kopf. »Keinen Centime, Doktor. Es
war kein Kunde.«
»Dann hat es dir also Spaß gemacht. Ich wußte nicht, daß
du das gern hast.«
Yvonne schüttelte
wieder den Kopf, ein zufriedenes, mysteriöses Lächeln auf dem Gesicht. Ravic
sah, daß ihr die Situation gefiel. Sie fühlte sich wichtig. »Ich bin keine
Masochistin«, sagte sie. Sie war stolz, das Wort zu kennen.
»Was war es denn? Krach?«
Yvonne wartete eine Sekunde. »Liebe«, sagte sie dann und
dehnte wohlig die Schultern.
»Eifersucht?«
»Ja.« Yvonne strahlte.
»Tut es sehr weh?«
»So was tut nicht weh.« Sie legte sich vorsichtig hin.
»Wissen Sie, Doktor, daß Madame Rolande mich erst nicht arbeiten lassen wollte?
Nur eine Stunde, habe ich gesagt; probieren Sie es nur eine Stunde! Sie werden
sehen! Und jetzt habe ich viel mehr Erfolg mit dem blauen Hintern als je
früher.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht. Es gibt Kerle, die verrückt danach sind.
Es regt sie auf. Ich habe in den letzten Tagen zweihundertfünfzig Frank mehr
gemacht. Wie lange wird das noch zu sehen sein?«
»Mindestens zwei bis drei Wochen.«
Yvonne schnalzte mit der Zunge. »Wenn das so weitergeht,
kann ich mir davon einen Pelzmantel kaufen. Fuchs – tadellos geblendete
Katzenfelle.«
»Wenn es nicht reicht, kann dein Freund dir ja leicht
nachhelfen mit einer neuen Tracht Prügel.«
»Das macht er nicht«, sagte Yvonne lebhaft. »So ist er
nicht. Kein berechnendes Aas, wissen Sie! Er macht das nur aus Leidenschaft.
Wenn es über ihn kommt. Ich könnte ihn auf den Knien bitten, er täte es sonst
nicht.«
»Charakter.« Ravic blickte auf. »Du bist gesund, Yvonne.«
Sie erhob sich. »Dann kann ja die Arbeit losgehen. Unten
wartet schon ein Alter auf mich. Einer mit einem grauen Spitzbart. Ich habe ihm
die Striemen gezeigt. Er ist wild danach. Hat zu Hause nichts zu sagen. Träumt
davon, daß er seine Alte verhauen möchte, glaube ich.« Sie brach in ein
glockenklares Gelächter aus. »Doktor, die Welt ist komisch, wie?« Sie
schaukelte selbstzufrieden hinaus.
Ravic wusch sich. Dann stellte er die Sachen, die er
gebraucht hatte, beiseite und trat ans Fenster. Die Dämmerung hing
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