E.M. Remarque
einen Schnurrbart. Jemand muß jeden Tag auf ihn
achtgeben – er ist rasiert, das Haar ist geschnitten und der Schnurrbart
gestutzt. Der kleine Wagen, der eigentlich nur ein Brett mit Rollen ist, wird
von einem Einarmigen gezogen. Der Amputierte sitzt sehr gerade und aufmerksam darauf.
Ihm folgen die Wagen mit den Beinamputierten; je drei nebeneinander. Es sind
Wagen mit großen Gummirädern, die mit den Händen vorwärtsbewegt werden. Die
Lederschürzen, die die Stellen zudecken, wo Beine sein müßten, und die
gewöhnlich geschlossen sind, sind heute offen. Man sieht die Stümpfe. Die Hosen
sind sorgfältig darumgefaltet.
Als
nächste kommen Amputierte mit Krücken. Es sind die sonderbar schiefen
Silhouetten, die man so oft gesehen hat – die geraden Krücken und dazwischen
der etwas schräghängende Körper. Dann folgen Blinde und Einäugige. Man hört die
weißen Stäbe auf das Pflaster tappen und sieht an den Armen die gelben Binden
mit den drei Punkten. Die Augenlosen sind dadurch so bezeichnet, wie man die
geschlossenen Einfahrten von Einbahnstraßen oder Sackgassen markiert – mit den
drei schwarzen runden Bällen des verbotenen Verkehrs. Viele der Verletzten
tragen Schilder mit Aufschriften. Auch die Blinden tragen welche, wenn sie sie
auch nie mehr lesen können. «Ist das der Dank des Vaterlandes?» steht auf
einem. «Wir verhungern», auf einem anderen.
Dem
Mann auf dem kleinen Wagen hat man einen Stock mit einem Zettel vorn in seine
Jacke gesteckt. Darauf steht: «Meine Monatsrente ist eine Goldmark wert.»
Zwischen zwei anderen Wagen flattert eine weiße Fahne: «Unsere Kinder haben
keine Milch, kein Fleisch, keine Butter. Haben wir dafür gekämpft?»
Es
sind die traurigsten Opfer der Inflation. Ihre Renten sind so entwertet, daß
sie kaum noch etwas damit anfangen können. Ab und zu werden ihre Bezüge von der
Regierung erhöht – viel zu spät, denn am Tage der Erhöhung sind sie schon
wieder um ein Vielfaches zu niedrig. Der Dollar ist zu wild geworden; er
springt jetzt nicht mehr um Tausende und Zehntausende, sondern um
Hunderttausende täglich. Vorgestern stand er auf einer Million
zweihunderttausend – gestern auf einer Million vierhunderttausend. Morgen
erwartet man ihn auf zwei Millionen – und am Ende des Monats auf zehn. Die
Arbeiter bekommen jetzt zweimal am Tage Geld – morgens und nachmittags –, und
jedesmal eine halbe Stunde Pause, damit sie losrennen und einkaufen können;
denn wenn sie bis nachmittags damit warten, haben sie schon soviel verloren,
daß ihre Kinder nicht halb mehr satt werden. Satt – nicht gut genährt. Satt mit
allem, was man in den Magen stopfen kann – nicht mit dem, was der Körper
braucht.
Der
Zug ist viel langsamer als alle anderen Demonstrationszüge. Hinter ihm stauen
sich die Autos der Sonntagsausflügler. Es ist ein sonderbarer Kontrast – die
graue, fast anonyme Masse der schweigend sich dahinschleppenden Kriegsopfer,
und dahinter die zurückgestauten Autos der Kriegsgewinnler, murrend, fauchend,
ungeduldig, dicht auf den Fersen der Kriegerwitwen, die mit ihren Kindern den
Schluß des Zuges bilden, dünn, verhungert, verhärmt und ängstlich. In den Autos
prangen die Farben des Sommers, Leinen, Seide, volle Wangen, runde Arme und
Gesichter, die verlegen sind, weil sie in diese unangenehme Situation geraten
sind. Die Fußgänger auf den Trottoirs sind besser dran; sie schauen einfach weg
und zerren ihre Kinder mit, die stehenbleiben und die Verstümmelten erklärt
haben wollen. Wer kann, verschwindet durch die Seitenstraßen.
Die
Sonne steht hoch, es ist heiß, und die Verwundeten fangen an zu schwitzen. Es
ist der ungesunde käsige Schweiß der
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