E.M. Remarque
richtig, oder es
gibt keinen Gott. So einfach ist das.»
Ich
sehe sie überrascht an. Was sie sagt, klingt tatsächlich einfach und
einleuchtend. «Dann gäbe es auch keinen Teufel und keine Hölle?» sage ich.
«Oder wenn es sie gäbe, gäbe es keinen Gott.»
Isabelle
nickt. «Natürlich nicht, Rudolf. Wir haben so viele Worte. Wer hat die nur alle
erfunden?»
«Verwirrte
Menschen», erwidere ich.
Sie
schüttelt den Kopf und zeigt auf die Kapelle. «Die dort! Und sie haben ihn
darin gefangen», flüstert sie. «Er kann nicht heraus. Er möchte es. Aber sie
haben ihn ans Kreuz genagelt.»
«Wer?»
«Die
Priester. Sie halten ihn fest.»
«Das
waren andere Priester», sage ich. «Vor zweitausend Jahren. Nicht diese.»
Sie
lehnt sich an mich. «Es sind immer dieselben, Rudolf», flüstert sie dicht vor
mir, «weißt du das nicht? Er möchte hinaus; aber sie halten ihn gefangen. Er
blutet und blutet und will vom Kreuz herunter. Sie aber lassen ihn nicht. Sie
halten ihn fest in ihren Gefängnissen mit den hohen Türmen und geben ihm
Weihrauch und Gebete und lassen ihn nicht hinaus. Weißt du, warum nicht?»
«Nein.»
Der
Mond hängt jetzt blaß über den Wäldern im aschefarbenen Blau. «Weil er sehr
reich ist», flüsterte Isabelle.
«Er
ist sehr, sehr reich. Sie aber wollen sein Vermögen behalten. Wenn er
herauskäme, würde er es zurückbekommen, und dann wären sie alle plötzlich arm.
Es ist wie mit jemand, den man hier oben einsperrt; andere verwalten dann sein
Vermögen und tun damit, was sie wollen, und leben wie reiche Leute. So wie bei
mir.»
Ich
starre sie an. Ihr Gesicht ist angespannt, aber es verrät nichts. «Was meinst
du damit?» frage ich.
Sie
lacht. «Alles, Rudolf. Du weißt es doch auch! Man hat mich hierhergebracht,
weil ich im Wege war. Sie wollen mein Vermögen behalten. Wenn ich herauskäme,
müßten sie es mir zurückgeben. Es macht nichts; ich will es nicht haben.»
Ich
starre sie immer noch an. «Wenn du es nicht haben willst, kannst du es ihnen doch
erklären; dann wäre kein Grund mehr da, dich hierzuhalten.»
«Hier
oder anderswo – das ist doch alles dasselbe. Warum dann nicht hier? Hier sind
sie wenigstens nicht. Sie sind wie die Mücken. Wer will mit Mücken leben?» Sie
beugt sich vor. «Deshalb verstelle ich mich», flüstert sie.
«Du
verstellst dich?»
«Natürlich!
Weißt du das nicht? Man muß sich verstellen, sonst schlagen sie einen ans
Kreuz. Aber sie sind dumm. Man kann sie täuschen.»
«Täuschst
du auch Wernicke?»
«Wer
ist das?»
«Der
Arzt.»
«Ach
der! Der will mich nur heiraten. Er ist wie die anderen. Es gibt so viele
Gefangene, Rudolf, und die draußen haben Angst davor. Aber drüben der am Kreuz
– vor dem haben sie die meiste Angst.» – «Wer?»
«Alle,
die ihn benützen und von ihm leben. Es sind unzählige. Sie sagen, sie wären
gut. Aber sie richten viel Böses an. Wer einfach böse ist, kann wenig tun. Man
sieht es und nimmt sich vor ihm in acht. Aber die Guten – was die alles tun!
Ach, sie sind blutig!»
«Das
sind sie», sage ich, selbst merkwürdig erregt durch die flüsternde Stimme im
Dunkel. «Sie haben entsetzlich viel angerichtet. Wer selbstgerecht ist, ist
unbarmherzig.»
«Geh
nicht mehr hin, Rudolf», flüstert Isabelle weiter. «Sie sollen ihn freilassen!
Den am Kreuz. Er möchte auch einmal lachen und schlafen und tanzen.»
«Glaubst
du?»
«Jeder
möchte das, Rudolf. Sie sollen ihn freilassen. Aber er ist zu gefährlich für
sie. Er ist nicht wie sie. Er ist der Gefährlichste von allen – er ist der
Gütigste.»
«Halten
sie ihn deshalb fest?»
Isabelle
nickt. Ihr Atem streift mich. «Sie müßten ihn sonst wieder ans Kreuz schlagen.»
«Ja»,
sage ich, «das glaube ich auch. Sie würden ihn wieder töten; dieselben, die ihn
heute anbeten. Sie würden ihn töten, so wie man Unzählige in seinem Namen
getötet hat. Im Namen der Gerechtigkeit und
Weitere Kostenlose Bücher