E.M. Remarque
der Nächstenliebe.»
Isabelle
fröstelt. «Ich gehe nicht mehr hin», sagt sie und deutet auf die Kapelle. «Sie
sagen immer, man müsse leiden. Die schwarzen Schwestern. Warum, Rudolf?»
Ich
antworte nicht.
«Wer
macht, daß wir leiden müssen?» fragt sie und drängt sich gegen mich.
«Gott»,
sage ich bitter. «Wenn es ihn gibt. Gott, der uns alle geschaffen hat.»
«Und
wer bestraft Gott dafür?»
«Was?»
«Wer
bestraft Gott dafür, daß er uns leiden macht? Hier bei den Menschen kommt man
ins Gefängnis oder wird aufgehängt, wenn man das tut. Wer hängt Gott auf?»
«Darüber
habe ich noch nicht nachgedacht», sage ich. «Ich werde das einmal den Vikar
Bodendiek fragen.»
Wir
gehen durch die Allee zurück. Ein paar Glühwürmchen fliegen durch das Dunkel.
Isabelle bleibt plötzlich stehen.
«Hast
du das gehört?» fragt sie.
«Was?»
«Die
Erde. Sie hat einen Sprung gemacht, wie ein Pferd. Als Kind hatte ich Angst,
ich würde herunterfallen, wenn ich schliefe. Ich wollte festgebunden werden in
meinem Bett. Kann man der Schwerkraft trauen?»
«Ja.
Ebenso wie dem Tod.»
«Ich
weiß es nicht. Bist du noch nie geflogen?»
«In
einem Flugzeug?»
«Flugzeug»,
sagt Isabelle mit leichter Verachtung. «Das kann jeder. Im Traum.»
«Ja.
Aber kann das nicht auch jeder?»
«Nein.»
«Ich
glaube, jeder Mensch träumt einmal, daß er fliegt. Es ist einer der häufigsten
Träume, die es gibt.»
«Siehst
du!» sagt Isabelle. «Und du traust der Schwerkraft. Wenn sie nun eines Tages
aufhört? Was dann? Dann fliegen wir herum wie Seifenblasen! Wer ist dann
Kaiser? Der, der am meisten Blei an die Füße gebunden hat, oder der mit den
längsten Armen? Und wie kommt man von einem Baum herunter?»
«Das
weiß ich nicht. Aber selbst Blei hülfe nicht. Es wäre dann auch leicht wie
Luft.»
Sie
ist plötzlich ganz spielerisch. Der Mond scheint in ihre Augen, als brenne
hinter ihnen ein bleiches Feuer. Sie wirft das Haar zurück, das in dem kalten
Licht aussieht, als hätte es keine Farbe.
«Du
siehst aus wie eine Hexe», sage ich. «Eine junge und gefährliche Hexe!»
Sie
lacht. «Eine Hexe», flüstert sie. «Hast du es endlich erkannt? Wie lange das
gedauert hat!»
Mit
einem Ruck reißt sie den blauen weiten Rock auf, der um ihre Hüften schwingt,
läßt ihn fallen und steigt heraus. Sie trägt nichts als Schuhe und eine kurze
weiße Bluse, die sich öffnet. Schmal und weiß steht sie in der Dunkelheit, mehr
Knabe als Frau, mit fahlem Haar und fahlen Augen. «Komm», flüstert sie.
Ich
sehe mich um. Verdammt, denke ich, wenn Bodendiek jetzt käme! Oder Wernicke
oder eine der Schwestern, und ich ärgere mich, daß ich es denke. Isabelle würde
es nie denken. Sie steht vor mir wie ein Luftgeist, der einen Körper angenommen
hat, bereit, wegzufliegen.
«Du
mußt dich anziehen», sage ich.
Sie
lacht. «Muß ich das, Rudolf?» fragt sie spöttisch und hat keine Schwerkraft,
ich aber habe alle Schwerkraft der Welt.
Langsam
kommt sie näher. Sie greift nach meiner Krawatte und zerrt sie los. Ihre Lippen
sind ohne Farbe, graublau im Mond, ihre Zähne sind kalkweiß, und selbst ihre
Stimme hat ihre Farbe verloren. «Nimm das weg!» flüstert sie und reißt mir den
Kragen und das Hemd auf. Ich fühle ihre Hände kühl auf meiner nackten Brust.
Sie sind nicht weich; sie sind schmal und hart und greifen mich fest an. Ein
Schauer läuft über meine Haut. Etwas, was ich nie in Isabelle vermutet habe,
bricht plötzlich aus ihr heraus, ich spüre es wie einen heftigen Wind und einen
Stoß, es kommt von weit her und hat sich in ihr zusammengedrängt, wie der
sanfte Wind weiter Ebenen in einem Engpaß zu einem jähen Sturm. Ich versuche
ihre Hände festzuhalten und sehe mich um. Sie stößt meine Hände beiseite. Sie
lacht nicht mehr; in ihr ist auf einmal der tödliche Ernst der Kreatur, für die
Liebe überflüssiges Beiwerk ist, die nur ein Ziel kennt und der es nicht
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