E.M. Remarque
lange nicht gesehen, daß
auch sie es falsch auffassen würde. Sonst weiß ich niemand.
«Tatsächlich
nicht?» fragt Lisa.
«Tatsächlich
nicht.»
«Unglücksrabe!
Aber sei froh! Ich glaube, du wirst erwachsen!»
«Wann
ist man erwachsen?»
Lisa
überlegt einen Augenblick. «Wenn man mehr an sich denkt als an die anderen»,
krächzt sie dann und schmettert das Fenster zu.
Ich
werfe eine zweite Garbe von Septimenakkorden, diesmal von verminderten, aus dem
Fenster. Sie haben keine sichtbaren Folgen. Ich schließe dem Klavier den Rachen
und wandere die Treppen hinunter. Bei Wilke ist noch Licht. Ich klettere zu ihm
hinauf.
«Wie
ist die Sache mit den Zwillingen ausgegangen?» frage ich.
«Tiptop.
Die Mutter hat gesiegt. Die Zwillinge sind in ihrem Doppelsarg beerdigt worden.
Allerdings auf dem Stadtfriedhof, nicht auf dem katholischen. Komisch, daß die
Mutter auf dem katholischen zuerst ein Grab gekauft hat – sie hätte doch wissen
müssen, daß es da nicht ging, wenn einer der Zwillinge evangelisch war. Nun hat
sie das erste Grab an der Hand.»
«Das
auf dem katholischen Friedhof?»
«Klar.
Es ist tadellos, trocken, sandig, etwas erhöht – sie kann froh sein, daß sie es
hat!»
«Warum?
Für sich und ihren Mann? Sie wird doch wegen der Zwillinge jetzt auch auf den
Stadtfriedhof wollen, wenn sie stirbt.»
«Als
Kapitalanlage», sagt Wilke, ungeduldig über meine Stumpfsinnigkeit. «Ein Grab
ist heute eine erstklassige Kapitalanlage, das weiß doch jeder! Sie kann jetzt
schon ein paar Millionen daran verdienen, wenn sie es verkaufen will. Sachwerte
steigen ja wie verrückt!»
«Richtig.
Ich hatte das einen Moment lang vergessen. Weshalb sind Sie noch hier?»
Wilke
zeigt auf einen Sarg. «Für Werner, den Bankier. Gehirnblutung. Darf kosten, was
es will, echtes Silber, feinstes Holz, echte Seide, Überstundentarif – wie wäre
es mit etwas Hilfe? Kurt Bach ist nicht da. Sie können dafür morgen früh das
Denkmal verkaufen. Keiner weiß es bis jetzt. Werner ist nach Geschäftsschluß
umgefallen.»
«Heute
nicht. Ich bin todmüde. Gehen Sie doch kurz vor Mitternacht in die Rote Mühle
und kommen Sie nach eins zurück, um weiterzuarbeiten – dann ist das Problem der
Geisterstunde gelöst.»
Wilke
denkt nach. «Nicht schlecht», erklärt er. «Aber brauche ich da nicht einen
Smoking?»
«Nicht
einmal im Traum.»
Wilke
schüttelt den Kopf. «Ausgeschlossen, trotzdem! Die eine Stunde würde mich mehr
kosten, als ich in der ganzen Nacht verdienen würde. Aber ich könnte in eine kleine
Kneipe gehen.» Er schaut mich dankbar an. «Notieren Sie die Adresse Werners»,
sagt er dann.
Ich
schreibe sie auf. Sonderbar, denke ich, das ist schon der zweite heute abend,
der einen Rat von mir befolgt – nur für mich selbst weiß ich keinen. «Komisch,
daß Sie soviel Angst vor Gespenstern haben», sage ich. «Dabei sind Sie doch
gemäßigter Freidenker.»
«Nur
tagsüber. Nicht nachts. Wer ist nachts schon Freidenker?»
Ich
mache ein Zeichen zu Kurt Bachs Bude hinunter. Wilke winkt ab. «Es ist leicht,
Freidenker zu sein, wenn man jung ist. Aber in meinem Alter, mit einem
Leistenbruch und einer verkapselten Tuberkulose ...»
«Schwenken
Sie um. Die Kirche liebt bußfertige Sünder.»
Wilke
hebt die Schultern. «Wo bliebe da mein Selbstrespekt?»
Ich
lache. «Nachts haben Sie keinen, was?»
«Wer
hat nachts schon welchen? Sie?»
«Nein.
Aber vielleicht ein Nachtwächter. Oder ein Bäcker, der nachts Brot bäckt.
Müssen Sie denn unbedingt Selbstrespekt haben?»
«Natürlich.
Ich bin doch ein Mensch. Nur Tiere und Selbstmörder haben keinen. Es ist schon
ein Elend, dieser Zwiespalt! Immerhin, ich werde heute nacht mal zur
Gastwirtschaft Blume gehen. Das Bier ist da prima.»
Ich
wandere zurück über den dunklen Hof. Vor dem Obelisken schimmert es bleich.
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