E.M. Remarque
Das ist so zum Kotzen! Und je schrecklicher es war, um so
abenteuerlicher wird es in der Erinnerung. Wirklich über den Krieg könnten nur
die Toten urteilen; sie allein haben ihn ganz erlebt.»
Er
sieht mich an. «Erlebt?» sage ich, «erstorben.»
«Sie
und die, die das nicht vergessen», erwidert er. «Aber das sind wenige. Unser
verdammtes Gedächtnis ist ein Sieb. Es will überleben. Und überleben kann man
nur durch Vergessen.»
Er
setzt seinen Hut auf. «Komm», sagt er. «Wir wollen sehen, was für Zeiten unser
goldener Vogel in Eduard Knoblochs Gedächtnis hervorruft.»
«Isabelle!» sage ich tief
erstaunt.
Ich
sehe sie auf der Terrasse vor dem Pavillon für die Unheilbaren sitzen. Nichts
ist mehr da von der zuckenden, gequälten Kreatur, die ich das letztemal gesehen
habe. Ihre Augen sind klar, ihr Gesicht ist ruhig, und sie scheint mir schöner,
als ich sie je vorher gekannt habe – aber das kann auch durch den Gegensatz zum
letzten Mal kommen.
Es
hat nachmittags geregnet, und der Garten blinkt von Feuchtigkeit und Sonne.
Über der Stadt schwimmen Wolken vor einem reinen, mittelalterlichen Blau, und
ganze Fensterfronten sind in Spiegelgalerien verwandelt. Isabelle trägt ein
Abendkleid, unbekümmert um die Zeit, aus einem sehr weichen schwarzen Stoff,
und ihre goldenen Schuhe. Am rechten Arm hängt eine Kette aus Smaragden – sie
muß mehr wert sein als unsere gesamte Firma, einschließlich des Lagers, der
Häuser und des Einkommens der nächsten fünf Jahre. Sie hat sie vorher noch nie
getragen. Es ist ein Tag der Kostbarkeiten, denke ich. Zuerst der goldene
Wilhelm II., und jetzt dieses! Aber die Kette rührt mich nicht.
«Hörst
du sie?» fragt Isabelle. «Sie haben getrunken, tief und viel, und nun sind sie
ruhig und satt und zufrieden. Sie summen tief, wie Millionen Bienen.»
«Wer?»
«Die
Bäume und all die Büsche. Hast du sie gestern nicht schreien gehört, als es so
trocken war?»
«Können
sie schreien?»
«Natürlich.
Kannst du das nicht hören?»
«Nein»,
sage ich und sehe auf das Armband, das funkelt, als hätte es grüne Augen.
Isabelle
lacht. «Ach, Rudolf, du hörst so wenig!» sagt sie zärtlich. «Deine Ohren sind
zugewachsen wie Buchsbaumgebüsch. Und dann machst du auch so viel Lärm –
deshalb hörst du nichts.»
«Ich
mache Lärm? Wieso?»
«Nicht
mit Worten. Aber sonst machst du einen furchtbaren Lärm, Rudolf. Oft bist du
kaum zu ertragen. Du machst mehr Lärm als die Hortensien, wenn sie durstig
sind, und das sind doch wahrhaftig mächtige Schreier.»
«Was
macht denn Lärm bei mir?»
«Alles.
Deine Wünsche. Dein Herz. Deine Unzufriedenheit. Deine Eitelkeit. Deine
Unentschlossenheit ...»
«Eitelkeit?»
sage ich. «Ich bin nicht eitel.»
«Natürlich
...»
«Ausgeschlossen!»
erwidere ich und weiß, daß es nicht stimmt, was ich sage.
Isabelle
küßt mich rasch. «Mach mich nicht müde, Rudolf! Du bist immer so genau mit
Namen. Du heißt auch eigentlich nicht Rudolf, wie? Wie heißt du denn?»
«Ludwig»,
sage ich überrascht. Es ist das erstemal, daß sie mich danach fragt.
«Ja,
Ludwig. Bist du deines Namens niemals müde?»
«Das
schon. Meiner selber auch.»
Sie
nickt, als wäre das das Selbstverständlichste der Welt.
«Dann
wechsle ihn doch. Warum willst du nicht Rudolf sein? Oder jemand anders. Reise
doch weg. Geh in ein anderes Land. Jeder Name ist eines.»
«Ich
heiße nun einmal Ludwig. Was ist da zu ändern? Jeder weiß es hier.»
Sie
scheint mich nicht gehört zu haben. «Ich werde auch bald weggehen», sagt sie.
«Ich fühle es. Ich bin müde und meiner Müdigkeit müde. Es ist alles schon etwas
leer und voll Abschied und Schwermut und Warten.»
Ich
sehe sie an und spüre plötzlich eine jähe Angst. Was mag sie meinen? «Ändert
sich nicht jeder immerfort?» frage ich.
Sie
blickt zur Stadt hinüber. «Das
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