E.M. Remarque
Lebens in uns, die wir sahen und mißverstanden,
sie in ihrer, ich in meiner Weise, wie taubstumme Blinde, ohne taub und stumm
und blind zu sein, und deshalb viel ärmer und beziehungsloser. Was war es, das
in ihr machte, daß sie zu mir kam? Ich wußte es nicht und würde es nie wissen –
es war begraben unter Schutt und einem Bergrutsch –, aber ich verstand auch
nicht, warum diese sonderbare Beziehung mich trotzdem so verwirrte, ich wußte
doch, was mit ihr war und daß sie mich nicht meinte, und trotzdem machte es
mich sehnsüchtig nach etwas, das ich nicht kannte, und bestürzte mich und
machte mich manchmal glücklich und unglücklich ohne Grund und ohne Sinn.
Eine kleine Schwester
kommt auf mich zu. «Die Oberin möchte gern mit Ihnen sprechen.»
Ich
stehe auf und folge ihr. Mir ist nicht ganz wohl zumute. Vielleicht hat eine
der Schwestern spioniert und die Oberin will mir sagen, ich solle nur mit
Kranken über sechzig sprechen, oder sie will mir sogar kündigen, obschon der
Oberarzt erklärt hat, es sei gut, wenn Isabelle Gesellschaft habe.
Die
Oberin empfängt mich in ihrem Besuchszimmer. Es riecht nach Bohnerwachs, Tugend
und Seife. Kein Hauch vom Frühling ist hineingedrungen. Die Oberin, eine
hagere, energische Frau, empfängt mich freundlich; sie hält mich für einen
tadellosen Christen, der Gott liebt und an die Kirche glaubt. «Es ist bald
Mai», sagt sie und sieht mir gerade in die Augen.
«Ja»,
erwidere ich und mustere die blütenweißen Gardinen und den kahlen, glänzenden
Fußboden.
«Wir
haben daran gedacht, ob wir nicht eine Mai-Andacht abhalten könnten.»
Ich
schweige erleichtert. «In den Kirchen der Stadt ist im Mai jeden Abend um acht
Uhr eine Andacht», erklärt die Oberin.
Ich
nicke. Ich kenne die Mai-Andachten. Weihrauch quillt in die Dämmerung, die
Monstranz funkelt, und nach der Andacht treiben sich die jungen Leuten noch
einige Zeit umher auf den Plätzen mit den alten Bäumen, wo die Maikäfer summen.
Ich gehe zwar nie hin, aber ich weiß das noch aus der Zeit, bevor ich Soldat
wurde. Damals begannen meine ersten Erlebnisse mit jungen Mädchen. Alles war
sehr aufregend und heimlich und harmlos. Aber ich denke nicht daran, jetzt
jeden Abend dieses Monats um acht Uhr hier anzutreten und Orgel zu spielen.
«Wir
möchten wenigstens sonntags abends eine Andacht haben», sagt die Oberin. «Eine
festliche, mit Orgelmusik und Te Deum. Eine stille wird ohnehin für die
Schwestern jeden Abend gehalten.»
Ich
überlege. Sonntags abends ist es langweilig in der Stadt, und die Andacht
dauert nur eine knappe Stunde.
«Wir
können nur wenig zahlen», erklärt die Oberin. «Soviel wie für die Messe. Das
ist jetzt wohl nicht mehr viel, wie?»
«Nein»,
sage ich. «Es ist nicht mehr viel. Wir haben draußen eine Inflation.»
«Ich
weiß.» Sie steht unentschlossen. «Der Instanzenweg der Kirche ist leider dafür
nicht eingerichtet. Sie denkt in Jahrhunderten. Wir müssen das hinnehmen. Man
tut es ja schließlich für Gott und nicht für Geld. Oder nicht?»
«Man
kann es für beides tun», erwidere ich. «Das ist dann ein besonders glücklicher
Zustand.»
Sie
seufzt. «Wir sind gebunden an die Beschlüsse der Kirchenbehörden. Die werden
einmal im Jahr gefaßt, und nicht öfter.»
«Auch
für die Gehälter der Herren Pastoren, Domkapitulare und das des Herrn
Bischofs?» frage ich.
«Das
weiß ich nicht», sagt sie und errötet etwas. «Aber ich glaube schon.»
Ich
habe inzwischen meinen Entschluß gefaßt. «Heute abend habe ich keine Zeit»,
erkläre ich. «Wir haben eine wichtige geschäftliche Sitzung.»
«Heute
ist ja noch April. Aber nächsten Sonntag – oder, wenn Sie sonntags nicht
können, vielleicht einmal in der Woche. Es wäre doch schön, ab und zu eine
richtige Mai-Andacht zu haben. Die Muttergottes wird es
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