Emerald: Hörspiel
»Haltet sie auf!«
»Michael«, zischte Kate. »Das Buch! Schnell!«
»Jemand wird uns sehen …«
»Das ist egal.« Und sie griff selbst in die Tasche und zog das Buch heraus. Dunkle Gestalten kamen auf sie zu. Eine von ihnen schrie. Dann eine zweite. Und noch eine. Kate versuchte, es zu ignorieren, aber es war, als würde man unter Wasser versuchen, nach Luft zu schnappen. Sie konnte nicht mehr atmen.
»Wo … wo ist das Foto?«
Michael rührte sich nicht. Kate dämmerte, dass die Schreie der Kreaturen ihn hatten erstarren lassen. Da verpasste Emma ihm eine Ohrfeige.
»He – was soll das?!«
»Das Foto!«
Michael warf einen Blick auf die dunklen Gestalten, die sich rasch näherten und dabei rechts und links Kinder aus dem Weg schleuderten. Wieder schrie die Gräfin: »Haltet diese Kinder auf!« Er fummelte in seinen Taschen, zog das Foto heraus und ließ es gleich wieder fallen.
Kate fiel auf die Knie, legte das Buch auf ihren Schoß und öffnete es.
»Emma, nimm meinen Arm!«
Mit zitternden Fingern tastete sie nach dem Foto, aber Michael hatte seinen Fuß daraufgestellt.
»Wo ist es?«, fragte er. »Ich sehe es nicht!« »Du stehst drauf! Rück zur Seite!«
Die Kreischer kamen näher. Ihre Schreie waren lauter als je zuvor. Sie musste sich konzentrieren, musste …
Und dann, nur für einen kurzen Augenblick, herrschte Stille. Es schien so, als müssten diese Kreaturen doch hin und wieder Atem holen. Kate spürte, wie die Luft in ihre Lungen zurückkehrte, wie ihr Herz Blut durch ihren Körper pumpte. Sie stieß Michael aus dem Weg und griff sich das Foto. Es war mit Schmutz von seiner Schuhsohle befleckt. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Stephen McClattery zur Seite geschleudert wurde.
»Schnell!«, brüllte Emma.
»Festhalten!«, schrie Kate.
Als die beiden dunklen Gestalten sich auf sie stürzen wollten, legte Kate das Foto auf die leere Seite. Sie fühlte einen Ruck in ihrem Magen und dann gab der Boden unter ihren Füßen nach.
Kate blinzelte. Alles war dunkel, die Luft kühl. Sie blinzelte
noch ein paarmal, und dann schwappte Erleichterung über sie hinweg, als sich ihre Augen an das spärliche Licht gewöhnt hatten. Sie standen wieder in dem unterirdischen Raum im großen Haus. In ihrer Zeit. Sie kniete auf dem Boden und hatte das Buch auf dem Schoß. Auf der anderen Seite des Raums sah sie drei Gestalten – Michael, Emma und sich selbst – kurz im Taschenlampenlicht aufblitzen.
Und dann waren sie weg.
Kate spürte, wie etwas sich von ihr löste. Als ob eine höhere Macht sie zusammengehalten hätte.
»Kate.« Emmas Stimme war neben ihr. Kate wurde bewusst, mit welcher Heftigkeit ihre Schwester ihren Arm packte. »Kate, wo ist Michael?«
Kate schaute dorthin, wo Michael gestanden hatte. Besser gesagt: Wo Michael stehen sollte. Ihr Bruder war nicht da.
KAPITEL 5
Dr. Stanislaus Pym
Beim Abendessen erzählten sie Miss Sallow, Michael fühle sich nicht wohl und sei früh zu Bett gegangen. Sie selbst rührten kaum etwas von dem Essen an und beachteten die alte Frau auch nicht, die grummelnd meinte, ihre Kochkünste könnten sich wohl nicht mit dem Hof in Versailles messen und dass sie zweifellos gleich am nächsten Morgen auf die Guillotine gebracht werden würde. Abraham hatte schon ein Feuer gemacht, als sie in ihr Zimmer kamen, und die beiden Mädchen stiegen in das Bett, in dem sie gemeinsam schliefen, und hielten einander ganz fest.
»Es wird alles gut«, sagte Kate zu Emma. »Wir holen ihn zurück. «
Irgendwann in der Nacht spürte Kate, dass Emma eingeschlafen war. Aber sie selbst lag wach. Ihr Geist rotierte um die Ereignisse des heutigen Tages. Hatte einer der Kreischer Michael im letzten Moment zu fassen bekommen? Oder – schlimmer
noch – hatte sie das Foto auf das Buch gelegt, bevor Michael sie hatte berühren können? Hatte er nach ihr gegriffen, in dem Moment, in dem sie vor seinen Augen verschwand? Sie stellte sich vor, wie Michael die leere Luft umarmte, wo sie und Emma eben noch gestanden hatten. Was für ein Schrecken musste über ihn gekommen sein, als ihn die kalten Krallen der Kreischer packten. Dort im Dunkeln, die schlafende Emma neben sich, flüsterte Kate immer wieder: »Es ist alles meine Schuld. Es ist alles meine Schuld.« Ihre Mutter hatte sie nur um eins gebeten: auf ihre Geschwister aufzupassen. Und sie hatte versagt. Was sollte sie ihr jetzt sagen? Wie sollte sie das erklären? Ihre einzige Hoffnung war das Buch, das unter ihrer Matratze versteckt
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