Emil oder Ueber die Erziehung
ohne des Erfolgs gewiß zu sein. Sein Auge ist aufmerksam und scharf; er wird nicht rathlos zu den Anderen umherlaufen und sie über Alles, was er erblickt, befragen, sondern er wird es selbst untersuchen und sich, ehe er danach fragt, Mühe geben, das, was er wissen will, selbst zu finden. Geräth er in unvorhergesehene Verlegenheiten, so wird er sich weniger als ein Anderer beunruhigen; ist Gefahr damit verbunden, so wird er ebenfalls weniger erschrecken. Da seine Einbildungskraft noch in Unthätigkeit verharrt, und man nichts gethan hat, dieselbe zu erregen, so sieht er nur, was wirklich vorhandenist, schätzt die Gefahr richtig und behält immer kaltes Blut. Die Nothwendigkeit hat ihm zu oft ihre Gewalt gezeigt, als daß er noch gegen sie ankämpfen sollte. Er trägt ihr Joch von seiner Geburt an, ist deshalb vollkommen daran gewöhnt und ist stets auf Alles gefaßt.
Ob er sich beschäftigt oder belustigt, gilt ihm gleich. Seine Spiele sind seine Beschäftigungen; er kennt zwischen ihnen keinen Unterschied. An Alles, was er unternimmt, geht er mit einem Interesse, welches uns ein Lächeln abnöthigt, und mit einer Freiheit, die uns wohlthuend berührt, da sich uns darin zugleich die Richtung seines Geistes wie der Umfang seiner Kenntnisse kund gibt. Ist nicht der Anblick dieses Alters ein liebliches Schauspiel? Ist es nicht reizend, ein hübsches Kind zu sehen mit lebhaftem und munterem Auge, zufriedener heiterer Miene, offenem lachendem Gesichte, das unter seinen Spielen die ernstesten Sachen verrichtet oder unbedeutende Spielereien mit dem größten Eifer betreibt?
Habt ihr Lust, ihn nun auch nach einem Vergleiche mit Anderen zu beurtheilen? Bringet ihn in einen Kreis anderer Kinder und laßt ihn gewähren. Ihr werdet bald sehen, welches das wahrhaft gebildetste ist und sich der Vollkommenheit dieses Alters am meisten nähert. Unter den Stadtkindern ist keines gewandter als er; aber er übertrifft sie Alle an Stärke. Mit den Bauernkindern nimmt er es an Stärke auf, während er ihnen an Gewandtheit überlegen ist. Ueber Alles, was nicht über die kindliche Fassungskraft hinausgeht, schließt, urtheilt und sieht er besser voraus als sie Alle. Gilt es, etwas zu unternehmen, zu laufen, zu springen, schwere Gegenstände aus dem Wege zu schaffen, Massen aufzuheben, Entfernungen zu schätzen, Spiele zu erfinden, Preise davonzutragen, dann gewinnt es fast den Anschein, als ob sich die Natur seinen Befehlen füge, so leicht weiß er Alles seinem Willen zu unterwerfen. Er ist zur Leitung und Führung seiner Spielgefährten wie geschaffen; das dazu nöthige Recht und die Autorität werden bei ihm durch Talent und Erfahrung ersetzt. Gebt ihm jedes beliebige Kleid, jeden beliebigen Namen, darauf kommt wenig an,er wird sich doch überall zum Führer, zum Haupte der Anderen aufwerfen; sie werden stets seine Überlegenheit herausfühlen. Ohne befehlen zu wollen, wird er der Herr sein; und sie werden, ohne sich darüber klar zu werden, gehorchen.
Er ist zur Reife der Kindheit gelangt; er hat das Leben eines Kindes gelebt und seine Vollkommenheit nicht auf Kosten seines Glückes erkauft; sie haben sich vielmehr beide mit einander und durch einander entwickelt. Während seine Verstandeskräfte allmählich bis zu dem Grade, der seinem Alter angemessen ist, ausgebildet sind, war er so glücklich und frei, wie seine Lage es gestattete. Sollte die Blüte unserer auf ihn gesetzten Hoffnungen durch die Sichel des Todes dahingerafft werden, so werden wir nicht gleichzeitig sein Leben und seinen Tod zu beweinen haben und unsere Schmerzen nicht noch durch die Erinnerung an diejenigen erhöhen müssen, die wir ihm bereitet haben; wir werden uns sagen können: »Wenigstens hat er seine Jugend genossen; durch unsere Schuld ist ihm nichts von Allem entzogen, was ihm die Natur verliehen hatte.«
Diese erste Erziehung führt freilich den großen Uebelstand mit sich, daß nur scharfblickenden Menschen der Vorteil derselben einleuchtend ist, während gewöhnliche Augen in einem mit so großer Sorgfalt erzogenen Kinde nur einen Schlingel erblicken. Ein Lehrer hat sein eigenes Interesse stets mehr im Auge als das seines Schülers. Er läßt es sich angelegen sein, den Nachweis zu führen, daß er seine Zeit nicht verliere, und daß er das Geld, welches man ihm zahlt, wohl verdiene. Die Kenntnisse, welche er ihm beibringt, lassen sich leicht auskramen und, so oft man will, in Parade vorführen; es verschlägt dabei wenig, ob das, was er ihn
Weitere Kostenlose Bücher