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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Geist liegt nicht auf seiner Zunge, sondern wohnt in seinem Kopfe. Er besitzt weniger Gedächtniß als Urtheilskraft; er spricht nur eine einzige Sprache, versteht aber auch, was er sagt, und wenn er es auch nicht so gut sagt wie Andere, so ist er dafür im Thun gewandter als sie.
    Er weiß, nicht, was Routine, Herkommen, Gewohnheit ist. Was er gestern gethan, hat keinen Einfluß auf sein heutiges Thun. [43]
    Er folgt nie einer Formel, gestattet weder der Autorität noch dem Beispiele einen Einfluß und handelt und spricht nur nach eigenem Gefallen. Erwartet deshalb von ihm weder eingelernte Reden noch einstudirte Manieren, aber beständig den treuen Ausdruck seiner Ideen und ein Betragen, welches in seinen Neigungen wurzelt.
    Ihr werdet finden, daß er nur eine geringe Zahl moralischer Begriffe besitzt, die sich auf seinen gegenwärtigen Zustand beziehen, dagegen keine über das gegenseitige Verhältniß der Menschen unter einander; wozu sollten ihm dieselben auch dienen, da ja ein Kind noch kein thätiges Glied der Gesellschaft ist? Redet mit ihm von Freiheit, Eigenthum, sogar von Verträgen, bis dahin geht noch sein Verständniß. Er weiß, weshalb das Seinige ihm gehört, und weshalb das, was nicht das Seinige ist, ihm nicht gehört. Darüber hinaus weiß er aber nichts mehr. Redet zu ihm von Pflicht, von Gehorsam, so weiß er nicht, was ihr damit sagen wollt; befehlt ihm etwas, so wird er euch nicht verstehen. Sagt ihr jedoch zu ihm: »Wenn du mir diesen Gefallen erwiesest, würde ich dir bei passender Gelegenheit Gleiches mit Gleichem vergelten«, so wird er sich sofort beeilen, euerer Aufforderung nachzukommen, denn er kennt keinen höheren Wunsch, als sein Machtgebiet auszudehnen und sich Rechte an euch zu erwerben, die in seinen Augen unverletzlich sind. Vielleicht ist es ihm auch gar nicht unlieb, eine gewisse Stellung einzunehmen, mitgezählt zu werden und etwas zu gelten. Bestimmt ihn indeß dieser letztere Beweggrund in der That, so hat er freilich die Grenzen der Natur bereits überschritten, und ihr habt ihm vorher die Thore der Eitelkeit nicht gut genug versperrt.
    Bedarf er seinerseits irgend eines Beistandes, so wird er ihn vom ersten Besten, der ihm in den Wurf kommt, erbitten; er würde ihn vom Könige eben so gut wie von seinem Diener verlangen. Noch sind in seinen Augen alle Menschen gleich. An der Form seiner Bitte bemerket ihr sogleich, daß er sich dessen bewußt ist, Niemand habe ihm gegenüber eine Verpflichtung; er weiß, daß die Erfüllung seines Verlangens eine Gefälligkeit ist. Er weiß aber auch, daß die Menschlichkeit zur Bewilligung seiner Bitte drängt. Seine Ausdrücke sind einfach und lakonisch. Seine Stimme, sein Blick, seine Geberden verrathen, daß er sowol an Erhörung als an Verweigerung gewöhnt ist. Es spricht sich in seinem Benehmen weder die kriechende und knechtische Unterwürfigkeit eines Sklaven aus, noch redet er in demgebieterischen Tone eines Herrn, sondern es prägt sich in ihm ein bescheidenes Zutrauen zu seines Gleichen, die edle und rührende Güte eines freien, aber empfindenden und schwachen Wesens aus, welches den Beistand eines eben so freien, aber starken und wohlwollenden Wesens erbittet. Wenn ihr seine Bitte erfüllt, so wird er euch nicht danken, aber er wird fühlen, daß er in eurer Schuld steht. Schlaget ihr sie ihm ab, so wird er sich nicht beklagen, nicht darauf bestehen, weil er doch weiß, daß dies vergeblich wäre. Er wird nicht zu sich sagen: »Man hat mir meine Bitte verweigert«, sondern er wird sich sagen: »Es konnte nicht sein«, und wie ich schon gesagt habe, man lehnt sich gegen eine Nothwendigkeit, die man einmal als richtig erkannt hat, nicht auf.
    Laßt ihn in der Freiheit allein; sehet zu, wie er handelt, ohne ihm etwas zu sagen; beobachtet, was er thun und wie er sich dabei benehmen wird. Da er nicht erst den Beweis zu liefern braucht, daß er auch wirklich frei ist, so thut er auch nichts aus bloßem Leichtsinne und nur zu dem Zwecke, einmal einen Act seines freien Willens auszuüben, weiß er es doch sehr wohl, daß er stets sein eigener Herr ist. Er ist munter, gewandt, behend; in seinen Bewegungen drückt sich die ganze Lebhaftigkeit seines Alters aus, aber ihr werdet keine einzige bemerken, welche zwecklos wäre. Was er auch immer thun mag, nie wird er etwas unternehmen, was seine Kräfte überstiege, da er sie erprobt hat und genau kennt. Seine Mittel werden sich stets seinen Zwecken anpassen, und selten wird er handeln,

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