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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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lehrt, auch nützlich ist, wenn es sich nur leicht bemerkbar macht. Ohne Wahl und Unterschied häuft er hunderterlei Dummheiten in seinem Gedächtnisse auf. Handelt es sich dann um eine Prüfung des Kindes, so läßt man es seine Waare auskramen; es prunkt mit seinem Wissen, man ist zufrieden, und dann packt es seinen Ballen wieder zusammen und geht. So reich ist mein Zögling freilich nicht, er kann keine Waaren zurSchau auslegen, er hat nichts aufzuweisen als sich selbst. Allein ein Kind läßt sich eben so wenig als ein Erwachsener in einem einzigen Augenblicke durchschauen. Wo wären wol die Beobachter, welche die Züge, die es gerade charakterisiren, auf den ersten Blick aufzufassen vermöchten? Es gibt solche, aber nur wenige; und von hunderttausend Vätern gehört vielleicht noch nicht ein einziger in diese Classe.
    Ein endloses Ab- und Ausfragen ist Jedermann, vorzüglich jedoch den Kindern langweilig und widerwärtig. Schon nach Verlauf weniger Minuten ermattet ihre Aufmerksamkeit, sie hören schließlich gar nicht mehr auf das, wonach ein hartnäckiger Examinator fragt und antworten nur noch auf gut Glück. Diese Art, sie zu prüfen, ist unnütz und pedantisch; oft enthüllt uns ein einziges, ihnen unwillkürlich entschlüpftes Wort ihren Verstand und Geist besser, als es lange Unterredungen thun könnten; indeß muß man darauf Acht geben, daß ihnen dieses Wort nicht blos in den Mund gelegt oder etwas Zufälliges ist. Man muß selbst eine feine Urtheilskraft besitzen, um die eines Kindes richtig schätzen zu können.
    Ich habe den verstorbenen Lord Hyde erzählen hören, daß einer seiner Freunde, der nach einer Abwesenheit von drei Jahren aus Italien zurückgekehrt war, die Fortschritte seines Sohnes, eines neun- bis zehnjährigen Knaben, prüfen wollte. Eines Abends gehen sie mit demselben und seinem Lehrer auf einem ebenen Felde, auf dem sich Schüler damit belustigen, Papierdrachen steigen zu lassen, spazieren. Plötzlich sagt der Vater ganz beiläufig zum Sohne: »Wo mag wol der Drachen stehen, dessen Schatten wir hier sehen?« Ohne zu stocken, ohne nur den Kopf zu erheben, antwortet das Kind: »Ueber der Landstraße.« Und in der That, setzte Lord Hyde hinzu, befand sich die Landstraße zwischen der Sonne und uns. Auf dieses Wort umarmte der Vater seinen Sohn und ging, indem er damit die Prüfung schloß, ohne ein Wort zu sagen, fort. Am folgenden Morgen schickte er dem Erzieher eine Anweisung auf eine lebenslängliche Pension außer seinem festen Gehalte.
    Was für ein Mann, dieser Vater! Und zu welchenHoffnungen berechtigte solch ein Sohn! [44] Die so eben angeführte Frage ist gewiß dem Alter ganz angemessen, und die Antwort ist sehr einfach, aber man erwäge, welche Klarheit der kindlichen Beurtheilungskraft sie voraussetzt! In ähnlicher Weise bändigte der Zögling des Aristoteles jenes berühmte Pferd, welches kein Bereiter hatte zügeln können.
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Drittes Buch.
    Obgleich die ganze Lebensperiode bis zum Eintritt in das Jünglingsalter eine Zeit der Schwäche ist, so gibt es doch während der Dauer dieses ersten Lebensalters einen Zeitpunkt, wo deshalb, weil die Zunahme der Kräfte die der Bedürfnisse überstiegen hat, das heranwachsende Wesen trotz der absoluten Schwäche doch verhältnißmäßig stark ist. Da seine Bedürfnisse noch nicht alle entwickelt sind, so reichen die wirklich vorhandenen Kräfte des Kindes vollkommen aus, um diejenigen zu befriedigen, die es fühlt. Als Mann würde es sehr schwach sein, als Kind ist es sehr stark.
    Woraus entspringt die Schwäche des Mannes? Aus der Ungleichheit, welche zwischen seiner Kraft und seinen Wünschen vorhanden ist. Unsere Leidenschaften sind es, die uns schwach machen, weil ihre Befriedigung mehr Kräfte erfordern würde, als uns die Natur verliehen hat. In der Verminderung unserer Wünsche würde also eine Erhöhung unserer Kräfte liegen; wer mehr vermag, als er verlangt, hat deren übrig und ist folglich ein sehr starkes Wesen. Dies zeigt sich besonders in der dritten Periode der Kindheit, welche ich jetzt zu behandeln habe. Ich bediene mich noch immer des Ausdrucks Kindheit, weiles keine eigene Bezeichnung für dieselbe gibt, denn obwol sich dieses Alter schon dem Jünglingsalter nähert, ist es doch noch nicht das der Mannbarkeit.
    Im zwölften oder dreizehnten Jahre entwickeln sich die Kräfte des Kindes ungleich schneller als seine Bedürfnisse. Das heftigste, das schrecklichste Bedürfniß hat sich

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