Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
ihm noch nicht fühlbar gemacht. Selbst das Organ desselben hat noch nicht seine völlige Ausbildung erreicht und scheint, um aus seinem unvollkommenen Zustande hervorzutreten, nur darauf zu warten, daß der Wille es dazu zwingt. Wenig empfindlich gegen die Ungunst des Wetters und der Jahreszeiten, trotzt ihnen das Kind mit Leichtigkeit; seine zunehmende innere Wärme dient ihm als Kleid, sein Appetit als Würze. Jeder Nahrungsstoff ist seinem Alter dienlich. Ist es schläfrig, so legt es sich auf die Erde und schläft. Allenthalben sieht es sich von dem, was ihm nöthig ist, umgeben. Noch quält es kein eingebildetes Bedürfniß; noch richtet es sich nicht nach fremder Meinung. Seine Wünsche reichen nicht weiter als seine Arme. Es ist nicht nur im Stande sich selbst zu genügen, sondern besitzt sogar noch mehr Kräfte, als es bedarf. Dies ist aber auch die einzige Zeit seines Lebens, wo es der Fall sein wird.
    Ich kann mir schon denken, welchen Einwurf man machen wird. Man wird zwar nicht behaupten, daß das Kind mehr Bedürfnisse habe, als ich ihm beilege, aber man wird läugnen, daß es die Kraft besitze, die ich ihm beimesse. Man wird unbeachtet lassen, daß ich eben von meinem Zöglinge rede und nicht von jenen umherwandelnden Puppen, die keinen größeren Marsch als von einem Zimmer in das andere kennen, die in Blumentöpfen Ackerbau treiben und papierne Lasten mit sich umherschleppen. Man wird mir einwenden, daß sich männliche Kraft auch nur im Mannesalter zeigen könne, daß nur die Lebensgeister, welche in den geeigneten Gefäßen bereitet sind und sich durch den ganzen Körper verbreiten, den Muskeln jene Festigkeit und Thätigkeit, jene Kraft und Elasticität mitzutheilen vermögen, welche die Quelle einer wahren Kraft sind. Das ist indeß nur die Sprache der Stubenphilosophie; ich meinerseits berufe mich auf die Erfahrung. Ichsehe auf euren Landgütern große Jungen das Land bestellen, hacken, pflügen, Weinfässer aufladen, den Wagen lenken, ganz wie ihre Väter. Verriethe sie der Ton ihrer Stimme nicht, so könnte man sie für Männer halten. Sogar in unseren Städten sind junge Arbeiter, wie Grob-, Zeug- und Hufschmiede fast eben so stark als ihre Meister, und würden kaum weniger geschickt sein, wenn man sie bei Zeiten geübt hätte. Wenn es einen Unterschied gibt, und ich räume ein, daß es einen solchen gibt, so ist derselbe, ich wiederhole es, doch weit geringer, als der zwischen den wilden Begierden eines Mannes und den beschränkten Wünschen eines Kindes. Uebrigens ist hier nicht etwa blos von den physischen Kräften die Rede, sondern ganz besonders von der Kraft und Fähigkeit des Geistes, die erstere ersetzt und leitet.
    Dieser Zeitraum, in welchem das Individuum mehr Kraft entwickelt, als seine Begierden erfordern, ist, wie ich schon gesagt habe, zwar nicht die Zeit seiner größten absoluten Kraft, aber doch die seiner größten relativen Kraft. Er bildet die kostbarste Zeit des Lebens, eine Zeit, die nur einmal erscheint; eine sehr kurze Zeit, und, wie man aus dem Folgenden sehen wird, um so kürzer, je mehr auf eine gute Anwendung derselben ankommt.
    Was soll mein Emil nun mit diesem Überschusse an Fähigkeiten und Kräften anfangen, der jetzt seine Bedürfnisse übersteigt und ihm im späteren Alter fehlen wird? Er soll sich angelegen sein lassen, ihn zur Erwerbung alles dessen anzuwenden, was ihm dereinst im Augenblicke des Bedürfnisses nützlich sein kann. Er soll gleichsam den Ueberfluß seines gegenwärtigen Zustandes für die Zukunft aufheben. Das kräftige Kind soll Vorräthe für den schwachen Mann anlegen. Aber es soll dieselben nicht etwa Kasten anvertrauen, welche man ihm stehlen kann, noch sie in Scheuern aufspeichern, die ihm nicht gehören. Nein, um sich seinen Erwerb im wahren Sinne zu seinem Eigen zu machen, muß es ihn in seinen Armen, in seinem Kopfe, kurz in sich selbst ansammeln. Das ist demnach die Zeit der Arbeit, des Unterrichts, des Strebens; und lasset dabei nicht außer Acht, daß die Wahl derselben nicht vonmir willkürlich getroffen ist, sondern daß die Natur selber sie uns als solche bezeichnet.
    Die menschliche Fassungskraft hat ihre Grenzen; ein Mensch kann nicht allein nicht Alles wissen, er kann sich nicht einmal das Wenige, was die übrigen Menschen wissen, vollständig aneignen. Da der Gegensatz jeder falschen Behauptung eine Wahrheit ist, so ist die Zahl der Wahrheiten eben so unerschöpflich wie die der Irrthümer. Es kommt folglich darauf an,

Weitere Kostenlose Bücher