Emil oder Ueber die Erziehung
eben sowol in Bezug auf die Gegenstände, welche den Unterrichtsstoff bilden sollen, wie in Bezug auf die Zeit, welche zum Lernen derselben am geeignetsten ist, eine Wahl zu treffen. Unter den unserer Fassungskraft angemessenen Kenntnissen sind einige falsch, andere unnütz, und wieder andere dienen nur dazu, den Stolz dessen, der sie sich erworben hat, zu nähren. Die kleine Zahl derjenigen, welche in Wahrheit zu unserem Wohlsein beiträgt, verdient allein, daß ein weiser Mann nach ihnen strebt, und folglich muß auch nur zu ihrer Erwerbung ein Kind, welches man zu einem solchen machen will, angehalten werden. Es gilt nicht, Alles, was ist, zu kennen, sondern nur das, was nützlich ist.
Von dieser kleinen Anzahl muß man ferner noch diejenigen Wahrheiten in Abzug bringen, deren Verständnis schon einen völlig ausgebildeten Verstand erheischt, sowie diejenigen, welche die Kenntniß der Beziehungen der Menschen unter einander voraussetzen, die ein Kind noch nicht erlangen kann, und endlich diejenigen, welche, so wahr sie auch an und für sich sind, ein unerfahrenes Gemüth veranlassen können, sich über andere Gegenstände ein falsches Urtheil zu bilden.
Im Verhältniß zu den Dingen, die überhaupt existiren, sind wir dadurch auf einen sehr kleinen Kreis beschränkt; aber trotzdem bildet dieser Kreis noch immer ein unermeßliches Feld für die Fähigkeit des kindlichen Geistes. O du Finsterniß des menschlichen Verstandes, welche verwegene Hand wagte deinen Schleier zu berühren? Welche Abgründe sehe ich sich durch unser eiteles Wissen rings um diesen unglücklichen Knaben öffnen! O du, der du ihn auf diesen gefährlichen Pfaden leiten und den heiligen Vorhangder Natur vor seinen Augen hinwegziehen willst, erzittere! Versichere dich zuerst ernstlich seines Kopfes und des deinigen; bleibe in steter Besorgniß, daß er dem Einen oder dem Andern, oder vielleicht auch allen Beiden schwindeln werde. Fürchte den gleißnerischen Reiz der Lüge und die berauschenden Dünste des Stolzes. Sei immer, aber auch immer eingedenk, daß Unwissenheit noch niemals Schaden angerichtet hat, daß einzig und allein der Irrthum verderblich ist, und daß man nicht durch das in Irrthümer verfällt, was man nicht weiß, sondern durch das, was man zu wissen glaubt.
Die Fortschritte eures Zöglings in der Geometrie könnten euch als zuverlässiger Prüfstein und Maßstab für die Entwickelung seines Geistes dienen. Sobald er jedoch das Nützliche vom Unnützen zu unterscheiden vermag, so kommt es nun darauf an, ihn unter Aufgebot aller möglichen Behutsamkeit und Kunst in die speculativen Studien einzuführen. Verlangt ihr z.B. von ihm, daß er eine mittlere Proportionale zwischen zwei Linien suche, so stellet es so an, daß ihr ihn zuerst auf den Gedanken bringt, ein Quadrat zu construiren, welches einem gegebenen Rechtecke gleich ist. Wäre ihm die Aufgabe gestellt, zwei mittlere Proportionalen zu finden, so müßte man ihm zuerst die Aufgabe von der Verdoppelung des Kubus recht interessant machen, u.s.w. Beachtet, wie wir uns stufenweise den moralischen Begriffen nähern, welche uns Gutes und Böses unterscheiden lehren. Bis zu diesem Augenblicke haben wir nur das Gesetz der Notwendigkeit gekannt; jetzt wenden wir auch schon dem Nützlichen unsere Aufmerksamkeit zu und bald werden wir auch das Schickliche und Gute in den Kreis unserer Betrachtung ziehen.
Ein und derselbe Naturtrieb belebt die verschiedenen Fähigkeiten des Menschen. Der Thätigkeit des Körpers, welcher sich zu entwickeln bemüht ist, reiht sich jetzt die Thätigkeit des Geistes an, der sich zu unterrichten sucht. Anfangs sind die Kinder nur in fortwährender Bewegung, sodann werden sie neugierig, und diese Neugierde ist, sobald sie gut geleitet wird, die Triebfeder in dem Alter, bei welchem wir jetzt angelangt sind. Laßt uns nur stetsdie der Natur entspringenden Neigungen von denen, die in Vorurtheilen ihre Quelle haben, unterscheiden. Es gibt eine Wißbegierde, die sich nur auf den Wunsch gründet, für gelehrt zu gelten; es gibt indeß auch eine andere, die aus einer dem Menschen angebornen Neugierde entsteht und sich über Alles, was ihn nah oder fern interessiren kann, erstreckt. Die angeborne Sehnsucht nach Wohlsein und die Unmöglichkeit dieselbe völlig zu befriedigen, treiben den Menschen an, unaufhörlich neue Mittel zur Stillung derselben aufzusuchen. Dies ist das erste Princip der Wißbegierde, ein dem menschlichen Herzen natürliches Princip, dessen
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