Emil oder Ueber die Erziehung
Entwickelung indeß mit der Entfaltung unserer Leidenschaften und unserer Einsichten stets gleichen Schritt hält. Stellt euch einen Philosophen vor, der mit seinen Instrumenten und Büchern auf eine wüste Insel verbannt ist und mit Sicherheit weiß, daß er daselbst den Rest seiner Tage einsam zubringen muß. Er wird sich schwerlich noch um das Weltsystem, um die Gesetze der Anziehungskraft oder um die Differenzialrechnung kümmern. Vielleicht wird er in seinem ganzen Leben kein einziges Buch wieder aufschlagen; aber nie wird er es unterlassen, seine Insel auch bis auf den letzten Winkel zu durchsuchen, wie groß sie auch immer sein möge. Laßt uns deshalb von unserm ersten Unterrichte solche Kenntnisse fern halten, an denen der Mensch von Natur kein Interesse findet, und uns auf diejenigen beschränken, deren Aneignung uns der Naturtrieb wünschenswerth macht.
Für das menschliche Geschlecht kann die Erde als eine solche Insel gelten. Der uns am meisten in die Augen fallende Gegenstand ist die Sonne. Sobald wir aufhören, uns ausschließlich mit uns selbst zu beschäftigen, werden sich unsere ersten Beobachtungen auf Beide richten müssen. In der That hat es auch die Philosophie fast aller wilden Völker lediglich mit imaginären Einteilungen der Erde und mit der Gottheit der Sonne zu thun.
Welch ein Sprung! wird man vielleicht sagen. So eben waren wir nur mit dem beschäftigt, was uns berührt, mit dem, was uns unmittelbar umgibt; und auf einmal durchfliegen wir den ganzen Erdkreis und durchmessen dasWeltall bis zu seinen äußersten Enden! Dieser Sprung ist die Wirkung der Zunahme unserer Kräfte und der Neigung unseres Geistes. Im Zustande der Schwäche und Ohnmacht concentrirt uns die Sorge der Selbsterhaltung auf uns selbst; im Zustande der Macht und der Stärke drängt uns das Verlangen, uns auszudehnen, aus uns heraus und läßt uns so weit wie möglich davoneilen. Da uns jedoch die intellectuelle Welt noch unbekannt ist, so schweift unser Denken nicht weiter als unsere Augen reichen, und unser Verstand dehnt sich nur mit dem Raume aus, den er durchmißt.
Laßt uns unsere sinnlichen Wahrnehmungen in Begriffe verwandeln, laßt uns aber nicht plötzlich von sinnlichen Objecten auf übersinnliche überspringen. Vermittelst der ersteren müssen wir zu den letzteren gelangen. Bei den ersten Functionen des Geistes müssen die Sinne seine Führer sein. Kein anderes Buch als die Welt; kein anderer Unterricht als Thatsachen. Ein Kind, welches liest, denkt nicht, seine ganze Thätigkeit beschränkt sich auf das Lesen; es unterrichtet sich nicht, sondern lernt nur Worte.
Lenket die Aufmerksamkeit eures Zöglings auf die Erscheinungen in der Natur, dann werdet ihr ihn bald wißbegierig machen; um jedoch seine Wißbegierde zu nähren, dürft ihr euch nicht beeilen, sie zu befriedigen. Legt ihm seiner Fassungskraft angemessene Fragen vor und laßt ihn selbst die Antwort finden. Sein Wissen darf er nicht eurem Unterrichte zu verdanken haben, sondern es muß das Ergebniß seiner eigenen Beobachtung und Ueberlegung sein; er darf die Wissenschaft nicht lernen, sondern muß sie von Neuem auffinden. Wenn ihr je in seinem Geiste die Autorität an die Stelle der Vernunft setzt, so wird er nie mehr selbst überlegen; er wird sodann lediglich der Spielball fremder Ansichten sein.
Ihr beabsichtigt das Kind in der Geographie zu unterrichten und holt ihm zu dem Zwecke einen Globus, Karten des gestirnten Himmels und Atlanten herbei. Was für künstliche Apparate! Wozu denn alle diese bildlichen Darstellungen? Weshalb laßt ihr es nicht euer Erstes sein,ihm den Gegenstand selbst zu zeigen, damit es wenigstens begreife, wovon ihr mit ihm redet!
An einem schönen Abende macht man einen Spaziergang nach einem günstig gelegenen Orte, wo es uns der völlig freie Horizont möglich macht, den Untergang der Sonne genau zu beobachten, und merkt sich die Gegenstände, an welchen man den Ort ihres Untergangs wieder aufzufinden vermag. Am folgenden Morgen kehrt man, um sich in der erquickenden Morgenluft zu erfrischen, noch vor Aufgang der Sonne an den nämlichen Ort zurück. Feurige Pfeile, welche sie vor sich her schleudert, verkünden ihr Nahen. Röther und röther flammt der Himmel, der ganze Osten erscheint wie ein einziges Flammenmeer. Bei dieser Glut erwartet man das Tagesgestirn lange, bevor es sich zeigt. Jeden Augenblick glaubt man es auftauchen zu sehen; endlich bietet es sich den Blicken dar. Ein strahlender Punkt bricht
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