Emil oder Ueber die Erziehung
Elemente, gegen Hunger, Durst und Strapazen ab; tauchet sie in die Fluten des Styx. Vor Annahme einer andern festen Gewohnheit kann man den Körper gefahrlos an das, was man wünscht und bezweckt, gewöhnen; hat sich jedoch erst eine gewisse Festigkeit herausgebildet, dann ist jeder Wechsel, jede Veränderung mit Gefahren verknüpft. Ein Kind vermag Veränderungen zu ertragen, die ein Mann nicht ertragen könnte: die noch weichen und geschmeidigen Fibern des Erstern nehmen ohne große Mühe jede beliebige Biegung an, die des Mannes dagegen verändern, da sie steifer geworden sind, nur noch mit Anwendung von Gewalt die einmal angenommene Richtung. Man kann deshalb wol ein Kind abhärten und stark machen, ohne sein Leben und seine Gesundheit auf das Spiel zu setzen, und selbst wenn eine Gefahr mit unterlaufen sollte, so dürfte man nicht den geringsten Anstand nehmen. Da es nun einmal dem menschlichen Leben unauflöslich anhaftende Gefahren sind, kann man da wol besser thun, als sie grade der Lebensperiode vorzubehalten, wo sie am wenigsten schädlich sind?
Je älter das Kind, desto kostbarer wird sein Leben. Zu dem Werthe seiner eigenen Persönlichkeit tritt noch der der Sorgen und Pflege, die es gekostet hat, hinzu. Ein je größerer Theil seines Lebens schon verstrichen ist, desto lebhafter erwacht in ihm das Todesgefühl. Der Gedanke an die Zukunft des Kindes muß demnach bei der Sorge für seine irdische Erhaltung hauptsächlich vorherrschend sein, man muß, ehe es so weit gelangt ist, dasselbe gegen die Uebel der Jugend waffnen; denn wenn sich der Werth des Lebens bis zu dem Alter erhöht, wo man dasselbe nutzbarzu machen versteht, welche Thorheit ist es dann nicht, der Kindheit einige Uebel zu ersparen, da man sie im Alter der Vernunft dadurch vermehrt? Sind das die Lehren des Meisters?
Das Loos der Menschheit bringt es nun einmal mit sich, daß uns jede Lebenszeit Leiden auferlegt. Sogar die Sorge für die bloße Erhaltung ist mit Mühseligkeiten verbunden. Von Glück hat zu sagen, wer in seiner Jugend nur die physischen Uebel kennen lernt, Uebel, die weit weniger qualvoll sind, weit weniger schmerzen als die übrigen, und auch weit seltner uns zum Lebensüberdruß treiben. Nicht um den Schmerzen der Gicht zu entfliehen, tödtet man sich; schwerlich vermögen andere als Seelenleiden uns zur Verzweiflung zu bringen. Wir beklagen das Loos der Kindheit und sollten eher unser eigenes beklagen. Unser größtes Uebel bereiten wir uns selbst.
Mit Weinen tritt das Kind in die Welt; unter Weinen verfließt seine erste Kindheit. Bald wiegt, bald liebkost man es, um es zum Schweigen zu bringen. Entweder thun wir ihm den Willen, oder wir verlangen, daß es uns den Willen thut; entweder unterwerfen wir uns seinen Launen oder wir unterwerfen es den unsrigen; einen Mittelweg scheint man nicht zu kennen; es muß Befehle ertheilen oder annehmen. Auf diese Weise eignet es sich zuerst die Begriffe von Herrschaft und Knechtschaft an. Noch ehe es sprechen kann, gebietet es schon; ehe es handelnd auftreten kann, gehorcht es, ja bisweilen züchtigt man es, noch ehe es seinen Fehler einzusehen, oder vielmehr, ehe es solche zu begehen im Stande ist. Dadurch flößt man seinem jungen Herzen schon frühzeitig Leidenschaften ein, die man nachher der Natur zur Last legt, und nachdem man sich förmlich Mühe gegeben hat, das Kind unartig zu machen, beschwert man sich darüber es so zu finden.
In dieser Weise bringt ein Kind sechs oder sieben Jahre unter den Händen der Frauen zu, ein Opfer ihrer und seiner eigenen Launenhaftigkeit, und nachdem man ihm dies und das beigebracht hat, das heißt nachdem man sein Gedächtniß mit Worten, die ihm unverständlich geblieben sind, oder mit allerlei nichtsnutzigen Dingen, überladen, nachdemman sein natürliches Wesen durch Leidenschaften, die man künstlich in ihm geweckt und genährt, völlig erstickt hat, überläßt man dies Kunstproduct einer verschrobenen Erziehung den Händen eines Lehrers, der sich alle Mühe gibt die vorgefundenen künstlichen Keime zu entwickeln und auszubilden, der es Alles lehrt, nur nicht sich selbst zu erkennen, nur nicht seiner selbst Herr zu sein, nur nicht die Kunst zu leben und sich glücklich zu machen. Wenn nun endlich dieses Kind, Sklave und Tyrann in einer Person, voller Wissen und doch verstandesschwach, eben so kraftlos an Körper wie an Geist, in die Welt hinausgeschleudert wird, wenn es in derselben seine Verschrobenheit, seinen Stolz und alle seine
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