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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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blitzartig hervor und erfüllt alsbald den ganzen Raum; der Schleier der Finsterniß erbleicht und senkt sich. Der Mensch erkennt seine Heimat hienieden wieder und findet sie verschönert. Das Grün hat während der Nacht neue Frische erhalten; der anbrechende Tag, der es erhellt, die ersten Strahlen, welche es vergolden, zeigen es mit einem Netze funkelnden Thaues bedeckt, das Licht und Farben zurückstrahlt. Die Vögel versammeln sich in Chören und begrüßen gemeinschaftlich den Vater des Lebens mit ihren Jubelliedern. In diesem Augenblicke schweigt auch nicht ein einziger; ihr noch leises Gezwitscher ist süßer als im Laufe des Tages; die Sehnsucht eines friedlichen Erwachens klingt durch dasselbe hindurch. Diese mannigfaltigen Genüsse bringen auf die Sinne einen Eindruck von Frische hervor, der bis in die Seele zu dringen scheint. Die kurze halbe Stunde, welche das wunderbare Schauspiel währt, übt einen Zauber aus, dem Niemand zu widerstehen vermag: ein so großes, so schönes, so liebliches Schauspiel kann Niemanden kalt lassen.
    Das Entzücken, welches der Lehrer empfindet, wünscht er nun auch in dem Kinde wach zu rufen; er glaubt, daß es ebenfalls ergriffen werden wird, wenn er es auf die Empfindungen aufmerksam macht, von welchen er selbstbewegt wird. Reine Thorheit! Im Herzen des erfahrenen Mannes liegt das Leben dieses Naturschauspiels; um es recht zu sehen, muß man es empfinden können. Das Kind gewahrt wol die Gegenstände, allein die Beziehungen, in welchen sie zu einander stehen, vermag es nicht aufzufinden, vermag die süße Harmonie ihres Zusammenwirkens nicht aufzufassen. Um den Gesammteindruck zu empfinden, der das Ergebniß aller diesen einzelnen Eindrücke ist, bedarf es einer Erfahrung, die das Kind sich noch nicht erworben, bedarf es Gefühle, die es noch nicht empfunden hat. Hat es noch keine dürre Ebene lange durchwandert, hat noch kein glühender Sand seine Füße verletzt, hat es noch nicht die erstickende Hitze der von den Felsenwänden zurückgeworfenen Sonnenstrahlen darnieder gedrückt: wie soll es dann die erquickende Frische eines schönen Morgens genießen können? Wie soll dann der Wohlgeruch der Blumen, der Zauber des frischen Grüns, der feuchte Duft des Thaues, der weiche und elastische Gang auf einem Rasenteppiche seine Sinne entzücken? Wie vermag der Gesang der Vögel ein Gefühl der Wollust in ihm zu erregen, wenn ihm die Töne der Liebe und der Lust noch unbekannt sind? Wie soll es den Anbruch eines so schönen Tages mit Entzücken willkommen heißen, wenn ihm seine Phantasie noch nicht die Freuden auszumalen vermag, mit denen man ihn ausfüllen kann? Und wie soll es sich endlich von der Schönheit eines Schauspiels der Natur ergriffen fühlen, wenn es die Hand nicht kennt, welche Sorge getragen hat, dieselbe so herrlich zu schmücken.
    Haltet dem Kinde keine Reden, die ihm unverständlich sind. Fort mit allen Beschreibungen, mit aller äußeren Beredtsamkeit, mit bloßen Redefiguren und poetischem Schmucke! Jetzt handelt es sich noch nicht um Bildung des Gefühls und Geschmacks. Bleibet nach wie vor klar, einfach und kalt. Nur allzu früh wird die Zeit kommen, wo ihr eine andere Sprache führen müßt.
    Erzogen im Geiste meiner Grundsätze, gewöhnt, alle seine Hilfsmittel in sich selbst zu finden und zu Anderen nicht eher seine Zuflucht zu nehmen, als bis er sein eigenes Unvermögen erkannt hat, wird Emil jeden neuen Gegenstand,den er erblickt, lange prüfen, ohne etwas zu sagen. Er ist an eigenes Denken gewöhnt und nicht geneigt, Anderen mit Fragen lästig zu fallen. Begnügt euch also damit, ihm die Gegenstände im rechten Augenblicke vorzuweisen; erst wenn ihr seine Wißbegierde ausreichend beschäftigt seht, sucht ihn durch irgend eine hingeworfene lakonische Frage auf den rechten Weg zu bringen, sie zu befriedigen.
    Nachdem ihr nun bei jener Gelegenheit mit ihm den Aufgang der Sonne genau betrachtet, nachdem ihr ihn auf der Ostseite die Berge und die andern benachbarten Gegenstände habt anschauen und darüber ungestört plaudern lassen, so beobachtet, wie Jemand, der in tiefes Nachdenken versunken ist, einige Augenblicke Stillschweigen, und sagt dann zu ihm: »Ich überlege eben, daß gestern Abend die Sonne doch dort drüben untergegangen ist, während sie heute Morgen hier aufgeht. Wie ist das nur möglich?« Weiter fügt jedoch nichts hinzu. Legt er euch Fragen vor, so antwortet gar nicht darauf. Redet von andren Dingen. Ueberlaßt ihn sich selbst und

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