Emil oder Ueber die Erziehung
unnütz. Jeder Kreis ist breiter als die Erde; die Dicke der Pappe gibt ihnen ein Ansehen des Körperlichen, was leicht die falsche Vorstellung hervorrufen kann, als ob sie wirklich vorhandene ringförmige Massen vorstellten; und sagt ihr dem Kinde, daß man sich diese Kreise nur denke, so fehlt ihm das Verständniß für das, was es sieht, und es begreift gar nichts mehr.
Wir verstehen nie, uns an die Stelle der Kinder zu versetzen; statt auf ihre Ideen einzugehen, leihen wir ihnen die unsrigen, und indem wir beständig unseren eigenen Schlüssen nachgehen, häufen wir mit all den Reihen von Wahrheiten nur verschrobene Ansichten und Irrthümer in ihrem Kopfe auf.
Man streitet sich über die Vorzüge der analytischen oder synthetischen Methode beim Studium der Wissenschaften.Nicht immer hat man aber nöthig, unter ihnen eine Wahl zu treffen. Bisweilen lassen sich bei einer und derselben Untersuchung beide Methoden mit einander verbinden, und man kann ein Kind unter Benutzung der lehrenden Methode anleiten, während es selbst nur zu analysiren meint. Wenn man auf diese Weise Beide gleichzeitig zur Anwendung brächte, würden sie sich gegenseitig als Beweis dienen. Ginge das Kind zu gleicher Zeit von zwei entgegengesetzten Punkten aus, ohne sich dessen bewußt zu sein, daß es denselben Weg zurücklegte, so würde es beim endlichen Zusammentreffen völlig überrascht werden, und diese Ueberraschung könnte nur sehr angenehm sein. In der Geographie würde ich z.B. von ihren beiden Endpunkten ausgehen und mit dem Studium der Bewegungen der Erdkugel die Lehre von dem Verhältnisse ihrer einzelnen Theile verbinden, wobei ich mit der Heimat den Anfang machte. Während das Kind die Himmelskunde studirt und sich auf diese Weise gleichsam bis in den Himmel versetzt, müßt ihr es auch wieder zur Erde und ihrer Einteilung zurückführen und es zunächst mit seinem Wohnorte bekannt machen.
Die beiden ersten geographischen Anhaltspunkte, die es genau kennen lernen muß, werden die Stadt, in welcher es wohnt, und das Landhaus seines Vaters sein; hieran reihen sich die zwischen beiden liegenden Orte, darauf folgen die Flüsse in der Nachbarschaft, endlich der Stand der Sonne und die Art und Weise, sich zu orientiren. Hierin liegt der Vereinigungspunkt. Es muß sich nun selbst eine ganz einfache Karte entwerfen, welche zunächst nichts als jene erwähnten zwei Ausgangspunkte enthält, und denen es nach und nach die übrigen nach der Reihenfolge hinzufügt, wie es ihre Lage und Entfernung erfährt oder selbst abschätzt. Ihr könnt daraus schon sehen, welch einen Vortheil wir ihm bereits früher verschafften, als wir uns sein Augenmaß auszubilden bemühten.
Trotz alle dem wird man das Kind ohne Zweifel ein wenig leiten müssen, aber ja nur sehr wenig und vor allen Dingen so, daß es demselben nicht fühlbar wird. Irrt es sich, so laßt es ruhig geschehen, verbessert seine Fehlerdurchaus nicht; wartet es still ab, bis es im Stande ist, sie selbst einzusehen und wieder gut zu machen, oder richtet es bei günstiger Gelegenheit höchstens so ein, daß es durch dieselben empfindlich berührt werde. Wenn es sich niemals einer Täuschung hingäbe, würde es sicherlich nicht gut auffassen lernen. Uebrigens kommt es durchaus nicht darauf an, daß es mit voller Genauigkeit die Topographie des Landes, sondern darauf, daß es das Mittel kenne, sich über dieselbe zu unterrichten. Es verschlägt wenig, ob es die Karten im Kopfe habe, wenn es nur gründlich versteht, was sie darstellen, und wenn es nur einen deutlichen Begriff von der Kunst hat, sie zu entwerfen. Daran könnt ihr schon den Unterschied zwischen dem Wissen eurer Zöglinge und der Unwissenheit des meinigen bemerken. Jene kennen die Karten, und er entwirft sie. Dadurch gewinnen wir wieder neue Ausschmückungen für sein Zimmer.
Bleibet stets eingedenk, daß der Geist meines Unterrichts nicht darin besteht, dem Kinde vielerlei Dinge beizubringen, sondern darin, sich niemals andere als deutliche und klare Begriffe in seinem Kopfe festsetzen zu lassen. Wenn Emil auch gar nichts wüßte, würde es doch wenig verschlagen, vorausgesetzt, daß er sich nicht irrthümlichen Anschauungen hingäbe; und ich suche seinen Geist nur deshalb mit immer neuen Wahrheiten bekannt zu machen, um ihn vor Irrthümern zu bewahren, die sich sonst an ihrer Stelle einnisten würden. Die Entwickelung der Vernunft und Urtheilskraft geht nur langsam vor sich, während sich die Vorurtheile massenhaft
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