Emil oder Ueber die Erziehung
Nachbarinnen aufgeräumt fühlen, allerlei Narrheiten schwatzen und sich wie Kinder benehmen, bleibt er, in philosophische Betrachtungen versenkt, ganz allein in seinem Winkel sitzen. Er legt mir Fragen vor, deren Beantwortung ich jedoch ablehne, indem ich ihn auf spätere Zeit verweise. Er wird ungeduldig, vergißt Essen und Trinken und sehnt sich nach Aufhebung der Tafel, um sich mit mir in aller Ruhe aussprechen zu können. Was für ein Gegenstand für seine Wißbegierde! Was für ein Stoff für seine Belehrung! Was wird er bei seinem gesunden Urtheile, das noch nichts zu verderben im Stande war, über den Luxus denken, wenn er sich davon überzeugen wird, daß alle Weltgegenden dazu haben beisteuern müssen, daß zwanzig Millionen Hände vielleicht lange daran gearbeitet haben, daß es vielleicht Tausenden von Menschen das Leben gekostet hat, und dies Alles nur, damit ihm des Mittags das mit großer Pracht aufgetafelt werden konnte, was er am Abende dem geheimen Gemache wieder übergeben wird.
Bemühet euch mit aller Sorgfalt, die geheimen Folgerungen in Erfahrung zu bringen, welche er in seinem Herzen aus allen diesen Beobachtungen zieht. Habt ihr mit weniger Treue über ihn gewacht, als ich voraussetze, so kann er sich leicht versucht fühlen, seinen Gedanken eine ganz andere Richtung zu geben, und sich für eine sehr wichtige Persönlichkeit in der Welt zu halten, wenn er sieht,wie viel Mühe auf die Bereitung seiner Mahlzeit verwandt wurde. Seht ihr solche Schlußfolgerungen voraus, so könnt ihr leicht verhindern, daß er sie zieht, oder ihren Eindruck wenigstens sofort wieder verwischen. Da er sich die Dinge bis jetzt nur durch den materiellen Genuß anzueignen weiß, so vermag er über ihre Angemessenheit oder Unangemessenheit für ihn auch nur nach ihren sinnlich wahrnehmbaren Eindrücken zu urtheilen. Der Vergleich eines einfachen ländlichen Mahles, welchem als Vorbereitung Leibesübungen vorangegangen sind und das im Hunger, in der Freiheit und in der Freude seine Würze gefunden hat, mit seinem so prächtigen und steifen Festmahle, wird hinreichen, um ihm das Gefühl einzuflößen, daß es, da ihm der ganze Verlauf des prächtigen Festes keinen wirklichen Vortheil gebracht hat und sein Magen von dem Tische des Landmannes mit eben so großer Befriedigung wie von der Tafel des reichen Mannes scheidet, an dieser nicht mehr als an jenem gibt, was er in Wahrheit sein nennen könnte.
Suchen wir uns einmal klar zu machen, was ein Erzieher in einem ähnlichen Falle seinem Zöglinge sagen könnte. »Rufe dir die beiden Mahlzeiten noch einmal recht deutlich ins Gedächtniß zurück und entscheide bei dir selbst, welcher du mit größerem Vergnügen beigewohnt hast. Bei welcher hast du mehr Frohsinn bemerkt? Bei welcher hast du mit größerem Appetite gegessen, heiterer getrunken und herzlicher gelacht? Welche hat am längsten gedauert, ohne daß je Langeweile eintrat und ohne daß sie durch immer andere Gänge erst gleichsam wieder erneuert werden mußte? Und nun laß auch folgenden Unterschied nicht außer Acht: Dieses Schwarzbrod, das dir stets so gut mundet, kommt von dem Korn, welches jener Landmann selbst geerntet hat; sein trüber und herber, aber den Durst löschender und gesunder Wein ist ein Gewächs seines eigenen Weinberges; das leinene Tischzeug hat sein eigener Hanf geliefert, den seine Frau, seine Töchter, seine Mägde im Winter selbst gesponnen haben. Keine anderen Hände als die seiner Familie haben zu den Vorbereitungen für diese Mahlzeit beigetragen. Die nächste Mühle und der benachbarteMarktflecken bilden für ihn die Grenzen des Weltalls. Kannst du wol in Wahrheit behaupten, daß du von allem dem, was darüber hinaus die entfernten Länder und die zahlreichen Menschenhände auf die andere Tafel geliefert haben, einen wirklichen Genuß gehabt hast? Wenn also durch dies Alles deine Mahlzeit nicht wesentlich besser geworden ist, was für einen Gewinn hast du dann diesem Ueberflusse zu verdanken? Was hat dir denn so ganz besonders dabei gefallen? Und wärst du nun,« könnte der Erzieher auch noch hinzufügen, »der Herr des Hauses selbst gewesen, so würde dir Alles noch weit fremder geblieben sein, denn die Bemühung, mit deinen Genüssen vor den Augen der Gäste rechten Prunk zu treiben, würde dir schließlich den eigenen Genuß geraubt haben. Du hättest die Mühe, und jene das Vergnügen gehabt.«
Diese Rede mag zwar sehr schön sein, aber meinem Emil gegenüber ist sie werthlos, da
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