Emil oder Ueber die Erziehung
sich doch derselbe gegen nichts stärker als gegen den Tod. Daraus folgt, daß sie uns, sobald wir kein anderes Mittel mehr besitzen, unser Leben zu fristen, Alles gestattet. Die Grundsätze, die dem Tugendhaften gebieten, sein Leben gering zu schätzen und es der Pflicht zu opfern, sind von dieser ursprünglichen Einfachheit weit entfernt. Glücklich die Völker, bei denen man ohne Anstrengung gut und ohne Tugend gerecht sein kann! Sollte es aber in der Welt irgend einen Staat geben, der so erbärmlich wäre, daß Niemand, ohne böse zu handeln, darin leben könnte, und dessen Bürger notgedrungen Spitzbuben wären, so sollte in demselben nicht der Missethäter, sondern derjenige gehängt werden, der die Schuld trüge, daß er es werden müßte.
Sobald Emil wissen wird, was das Leben ist, wird es meine erste Sorge sein, ihn in der Kunst zu unterrichten, dasselbe zu erhalten. Bis jetzt habe ich zwischen den Ständen, Rangstufen und Glücksgütern noch keinen Unterschied gemacht, und denke auch in der Folge eben so zu verfahren, weil der Mensch ja in jedem Stande doch immer nur Mensch ist und bleibt, weil der Reiche keinen größeren Magen und keine bessere Verdauung als der Arme hat, weil der Herr keinen längeren und stärkeren Arm als der Knecht besitzt, weil ein Großer an Stellung und Würden darum noch um keine Haupteslänge über dem Manne aus dem Volke hervorragt, und weil endlich, da sich die natürlichen Bedürfnisse überall gleich zeigen, auch die Mittel zu ihrer Befriedigung überall gleich sein müssen. Die Erziehung des Menschen stehe mit dem in Einklang, was der Mensch ist, und nicht mit dem, was er nicht ist. Begreift ihr denn nicht, daß ihr ihn dadurch, daß ihr nur darauf ausgeht, ihn einseitig für einen einzigen Stand zu bilden, für jeden anderen unbrauchbar macht, und daß ihr, sobald ihm das launische Glück den Rücken kehrt, nur daran gearbeitet habt, ihn erst recht unglücklich zu machen? Gibt es etwas Lächerlicheres als einen vornehmen Herrn, der verarmt ist und sich auch in seinem Elende von den Vorurtheilen seiner Geburt nicht lossagen kann? Gibt esetwas Verächtlicheres als einen zum Bettler herabgesunkenen Reichen, der sich in Erinnerung der Verachtung, unter der die Armuth zu seufzen hat, als den Elendesten der Menschen fühlt? Dem Ersteren bleibt kein anderer Ausweg übrig, als ein offenkundiger Dieb zu werden, der Letztere wird sich mit der Rolle eines kriechenden Dieners trösten, und dies Alles unter der Devise des schönen Wortes: »Ich muß leben.«
Ihr verlaßt euch auf die augenblicklich bestehende gesellschaftliche Ordnung, ohne zu berücksichtigen, daß diese Ordnung unvermeidlichen Revolutionen ausgesetzt ist, und daß ihr euch in der Unmöglichkeit befindet, diejenige, welche über eure Kinder hereinbrechen kann, vorherzusehen oder zu verhindern. Der Große wird klein, der Reiche wird arm, der Monarch wird Unterthan. Sind diese Schicksalsschläge etwa so selten, daß ihr zuversichtlich darauf rechnen könnt, von ihnen verschont zu werden? Wir nähern uns sichtlich einer Krisis und dem Jahrhunderte der Revolutionen. [11]
Wer kann euch dafür bürgen, was dann aus euch werden wird? Was Menschen geschaffen haben, können Menschen auch wieder zerstören. Unauslöschlich sind nur die Charaktere, welche die Natur ihren Schöpfungen aufprägt, und sie schafft weder Fürsten noch Reiche, noch vornehme Herren. Was wird dann dieser Satrap, den ihr nur zur Pracht und Herrlichkeit erzogen habt, in seiner Niedrigkeit beginnen? Was wird das Loos dieses Generalpächters, der nur vom Golde zu leben versteht, in seiner Armuth sein? Was wird, von Allem entblößt, das Ende jenes schwelgerischen Schwachkopfes sein, der mit sich selbst nichts anzufangen weiß und beständig sein ganzes Wesen in etwas ihm völlig Fremdartiges versenkt? Glücklich alsdann derjenige, welcher den Muth besitzt, willig aus demStande, der ihm den Rücken wendet, herauszutreten und dem Schicksale zum Trotz ein ächter Mensch zu bleiben! Möge man jenen König, der, wenn er besiegt werden sollte, sich in trotzigem Muth unter den Trümmern seines Thrones begraben lassen will, immerhin rühmen und erheben, ich kann ihm nur meine Verachtung zollen; ich erkenne, daß seine Existenz nur an seine Krone geknüpft ist, und daß er nichts ist, wenn er nicht König ist. Wer sie aber verliert und auf sie zu verzichten weiß, der ist alsdann über die Krone erhaben. Von dem Range des Königs, den ein Feigling, ein Elender,
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