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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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sie seine Fassungskraft übersteigt, und er sich auch seine Betrachtungen nicht vorschreiben läßt. Führt deshalb ihm gegenüber eine einfachere Sprache. Nachdem er nach diesen beiden Richtungen hin in die Tafelgenüsse eingeweiht ist, werde ich ihn eines Morgens fragen: »Wo wollen wir heute unser Mittagbrod einnehmen? Vor diesem wahren Silberberge, der drei Viertheile der ganzen Tafel bedeckt, und diesen Beeten von Papierblumen, die man beim Nachtisch auf spiegelhellem Glase aufträgt, unter diesen Frauen mit den gewaltigen Reifröcken, die dich nur als Spielpuppe behandeln und dir vorreden, du habest von Dingen geredet, welche du gar nicht einmal kennst, oder lieber in dem Dorfe, zwei Meilen von hier, bei jenen guten Leuten, die uns immer mit so großer Freude aufnehmen und uns so gute Sahne vorsetzen?« Emil’s Wahl ist nicht zweifelhaft, denn er ist weder schwatzhaft noch eitel. Aller Zwang ist ihm verhaßt, und alle Künsteleien unserer Kochkunst sind ihm zuwider. Aber stets ist er zu einem Ausfluge auf das Land bereit und von gutem Obst, gutem Gemüse, guter Sahne und guten Leuten hält er ungemein viel. [9] Wie von selbst wird sich ihm unterwegs der Gedanke aufdrängen: »Ich sehe ein, daß die vielen Leute, welche sich solche Mahlzeiten große Mühe und zahlreiche Ungelegenheiten kosten lassen, sich ganz umsonst abplagen, oder daß sie es dabei nicht auf unser Vergnügen absehen.«
    Meine Beispiele, die vielleicht für einen Fall gut sein mögen, werden für tausend andere geradezu schlecht sein. Hat man jedoch den Geist derselben erfaßt, so wird man sie je nach Bedürfniß sehr wohl umzuändern verstehen. Ihre Wahl ist durch die Kenntniß der Individualität eines jeden einzelnen Kindes bedingt, und diese Kenntniß hängt von der Gelegenheit ab, die demselben dargeboten wird, sich zu zeigen. Man darf sich nicht dem Wahne hingeben, daß wir im Stande wären in einem Zeitraume von drei bis vier Jahren, die diese Periode in Anspruch nimmt, auch dem begabtesten Kinde nur einen Begriff von allen Künsten und allen Naturwissenschaften zu geben, der ihm die Fähigkeit verleihen könnte, dieselben dereinst selbst zu erlernen; indem wir jedoch auf diese Weise alle Gegenstände, die es nothwendig wissen muß, an ihm vorüberführen, setzen wir es in den Stand, seinen Geschmack und sein Talent zu entwickeln, die ersten Schritte nach dem Gegenstande, auf den sich seine Neigung richtet, zu thun, und uns den Weg zu zeigen, den wir ihm eröffnen müssen, der Natur behilflich zu sein.
    Ein anderer Vortheil dieses Zusammenhanges eingeschränkter, aber richtiger Begriffe liegt darin, daß wir demKinde ihre Verbindungen und Beziehungen zu einander nachzuweisen vermögen, daß wir ihnen allen den ihnen zukommenden Platz in seiner Wertschätzung einräumen und dadurch vorbeugen, daß sich in ihm etwa ähnliche Vorurtheile festsetzen, wie sie die meisten Menschen für diejenigen Talente hegen, die sie besonders pflegen, und von denen sie gegen diejenigen erfüllt sind, die sie vernachlässigen. Wer die Ordnung des Ganzen völlig überschaut, kennt auch die Stelle, die jeder einzelne Theil einzunehmen hat; wer dagegen einen Theil völlig überschaut und aus dem Grunde kennt, kann zwar ein sehr gelehrter Mann sein; ersterer ist dafür aber ein Mann von gesundem Urtheil, und ihr werdet eingedenk sein, daß wir nicht sowol auf die Erwerbung der Wissenschaft als auf die eines gesunden Urtheils ausgehen.
    Wie dem auch immer sein mag, meine Methode ist von meinen Beispielen unabhängig; sie stützt sich auf das Maß der Fähigkeiten des Menschen in seinen verschiedenen Lebensperioden und auf die Wahl der Beschäftigungen, die diesen Fähigkeiten angemessen sind. Ich glaube, es würde sich auch leicht eine andere Methode auffinden lassen, mit der man scheinbar noch günstigere Erfolge erzielen könnte; allein wenn sie sich weniger nach der Individualität, dem Alter und dem Geschlechte richtete, so bezweifle ich, daß sie gleiche Resultate aufzuweisen vermöchte.
    Beim Beginne dieser zweiten Periode haben wir uns, um uns aus uns selbst heraus zu versetzen, den bedeutenden Ueberschuß unserer Kräfte über unsere Bedürfnisse zu Nutze gemacht. Wir haben uns bis zum Himmel emporgeschwungen, haben die Erde ausgemessen, haben uns mit den Gesetzen der Natur bekannt gemacht, mit einem Worte, wir haben unsere ganze Insel durchstreift. Jetzt halten wir wieder bei uns selber Einkehr, wir nähern uns unmerklich unserer eigenen Wohnung. Ein

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