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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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um deswillen, daß ihre Leiden unser Mitgefühl erregen, denn in letzteren tritt uns die Identität unserer Natur und die Bürgschaft für ihre Anhänglichkeit an uns weit sichtlicher entgegen. Bildet bei unseren gemeinsamen Bedürfnissen das gleiche Interessedas Band der Vereinigung, so wird bei unserem gemeinsamen Elend wieder die Liebe das Bindemittel. Der Anblick eines glücklichen Menschen flößt den Anderen weniger Liebe als Neid ein; man hätte Lust ihm den Vorwurf zu machen, daß er dadurch, daß er sich ein ausschließliches Glück bereitet, sich ein Recht anmaße, welches ihm nicht gebühre, und selbst die Eigenliebe leidet darunter, indem sie es uns recht fühlbar macht, daß dieser Mensch unser nicht bedürfe. Wer aber bedauert nicht den Unglücklichen, den er leiden sieht? Wer würde ihn, wenn es ihm nicht mehr als einen Wunsch kostete, nicht gern von seinen Uebeln befreien wollen? Unsere Einbildungskraft versetzt uns weit eher an die Stelle eines Unglücklichen, als an die eines Elenden. Unser Gefühl sagt uns, daß uns der eine dieser Zustände weit näher berühre als der andere. Das Mitleid ist süß, weil man, während man sich an die Stelle des Leidenden versetzt, trotzdem gleichzeitig das Vergnügen empfindet, nicht einem gleichen Leiden unterworfen zu sein. Der Neid dagegen ist bitter, denn anstatt den Neidischen beim Anblicke eines Glücklichen an die Stelle desselben zu versetzen, erfüllt er ihn nur mit Bedauern, daß er dieselbe nicht einnimmt. Der Leidende scheint uns von den Uebeln, welche er duldet, zu befreien, der Glückliche uns hinwieder der Güter zu berauben, deren er genießt.
    Wollt ihr deshalb in dem Herzen eines jungen Menschen die ersten Regungen der erwachenden Empfindungen anfachen und nähren und seinem Charakter die Richtung zur Wohlthätigkeit und Güte geben, so laßt nie in ihm durch das trügerische Bild des menschlichen Glückes Stolz, Eitelkeit oder Neid aufkeimen; stellet ihm nicht gleich zuerst den Prunk der Höfe, die Pracht der Paläste, den fesselnden Reiz der Theater vor Augen; führt ihn nicht in gesellschaftliche Kreise und glänzende Versammlungen ein; zeigt ihm die Außenseite der großen Gesellschaft nicht eher, als bis ihr ihn befähigt habt, sie nach ihrem wahren Werthe zu schätzen. Ihm die Welt zeigen, bevor er die Menschen kennt, heißt nicht ihn bilden, sondern ihn verderben; heißt nicht ihn unterrichten, sondern ihn täuschen.
    Von Natur sind die Menschen weder Könige, nochGroße, noch Hofschranzen, noch Reiche. Alle werden nackend und arm geboren, Alle sind den kleinlichen Sorgen des Lebens, den Verdrießlichkeiten, den Uebeln, den Bedürfnissen und Schmerzen aller Art unterworfen, und Alle werden schließlich eine Beute des Todes. Das ist das wahre Spiegelbild des Menschen; kein Sterblicher ist von diesem Loose ausgenommen. Macht bei eurem Studium der menschlichen Natur deshalb mit dem den Anfang, was von derselben unzertrennlich ist, kurz mit Allem, worin sich das Wesen der Menschheit am deutlichsten darstellt.
    Mit sechszehn Jahren weiß der Jüngling, was leiden heißt, denn er hat schon selbst gelitten; aber er weiß kaum, daß andere Wesen ebenfalls mit Leiden zu kämpfen haben. Mit dem Anblick von Leiden vertraut sein, ohne sie zu empfinden, heißt noch nicht, sie kennen, und da, wie ich bereits hundertmal erklärt habe, sich das Kind nicht die Empfindungen Anderer vorzustellen vermag, so kennt es keine anderen Uebel als seine eigenen. Sobald jedoch die erste Entwickelung, der Sinnlichkeit das Feuer der Einbildungskraft in ihm anfacht, so beginnt es die Empfindungen seiner Mitmenschen zu theilen, von ihren Klagen gerührt zu werden und ihnen ihre Schmerzen nachzufühlen. In diesem Momente muß das dunkle Gemälde der leidenden Menschheit in seinem Herzen die erste Rührung hervorrufen, die es je empfunden hat.
    Wen wollt ihr nun dafür verantwortlich machen, wenn bei euren Kindern dieser Augenblick nicht deutlich in die Augen fällt? Ihr lehret sie so frühzeitig mit dem Gefühl spielen, macht sie mit der Sprache desselben so zeitig vertraut, daß sie dadurch, daß sie beständig in demselben Tone reden, eure Lehren gegen euch selbst kehren, und euch kein Mittel übrig lassen, zu unterscheiden, wann sie zu lügen aufhören und das wirklich zu fühlen beginnen, was sie sagen. Betrachtet dagegen meinen Emil! Bis zu dem Alter, zu welchem ich ihn jetzt geführt habe, hat er weder die in Rede stehenden Gefühle gehabt, noch eine Lüge über

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