Emil oder Ueber die Erziehung
Einbildungskraft. Der Strom der Vorurtheile reißt ihn fort. Um ihn zurückzuhalten, müßt ihr ihn in entgegengesetzter Richtung fortdrängen. Das Gefühl muß der Einbildungskraft Fesseln anlegen, und die Vernunft muß die Meinung der Menschen zum Schweigen bringen. In der überaus großen Empfänglichkeit für alle Eindrücke liegt die Quelle aller Leidenschaften, während die Einbildungskraft ihre Richtung bestimmt. Jedes Wesen, welches sich seiner Beziehungen bewußt ist, muß durch eine Verschlechterung derselben und durch die wirkliche oder auch nur eingebildete Auffindung solcher Beziehungen, die seiner Natur angemessener sind, unbedingt afficirt werden. Durch diese Fehler der Einbildungskraft werden die Leidenschaften aller endlichen Wesen, selbst der Engel, wenn es solche gibt, [2] in Laster verwandelt, denn sie müßten die Natur aller Wesen kennen, um sich eine Ueberzeugungdavon zu verschaffen, welche Beziehungen sich für ihre Natur am besten eignen.
Die Summe aller menschlichen Weisheit hinsichtlich der Behandlung der Leidenschaften läßt sich demnach in Folgendem kurz zusammenfassen: 1) Man muß die wahren Verhältnisse des Menschen kennen, sowol was die Gattung im Allgemeinen als auch das einzelne Individuum betrifft, 2) muß man nach diesen Verhältnissen alle Gemüthsbewegungen regeln.
Hat es der Mensch denn aber in seiner Gewalt, seine Gemüthsbewegungen nach diesen oder jenen Verhältnissen zu regeln? Unzweifelhaft, sobald er nur im Stande ist, seiner Einbildungskraft die Richtung auf diesen oder jenen Gegenstand zu geben oder ihr diese oder jene Gewohnheit beizubringen. Uebrigens handelt es sich hier ja weniger um das, was ein Mensch über sich selbst vermag, als vielmehr um das, was wir durch die Wahl der Verhältnisse, in die wir unsern Zögling versetzen, über denselben vermögen. In der Darlegung der Mittel, welche dazu geeignet sind, ihn in der Ordnung der Natur zu erhalten, liegt gleichzeitig eine genügende Auseinandersetzung der Wege, auf welchen er aus derselben herauszutreten vermag.
So lange sein Empfindungsvermögen nur auf seine eigene Person beschränkt bleibt, fehlt seinen Handlungen der sittliche Charakter; erst wenn sich dasselbe über ihn selbst hinaus zu erstrecken beginnt, gewinnt er zunächst unbestimmte Vorstellungen und späterhin die klaren Begriffe des Guten und Bösen, die ihn in Wahrheit zum Menschen und zu einem integrirenden Theile seiner Gattung machen. Auf diesen ersten Punkt müssen wir deshalb zunächst unsere Aufmerksamkeit lenken.
Dies ist freilich mit mancherlei Schwierigkeiten verbunden, weil wir, wenn wir zum Ziele gelangen wollen, die Beispiele, welche wir unmittelbar vor Augen haben, zurückweisen und uns nach solchen umsehen müssen, bei welchen die stufenweise Entwickelung der Ordnung der Natur gemäß stattfindet.
Ein nach der herkömmlichen Schablone zugestutztes, dressirtes und äußerlich wohl abgerichtetes Kind, welchesnur auf die Fähigkeit wartet, die vorzeitigen Lehren, die es empfangen hat, in Ausübung bringen zu können, täuscht sich nie über den Augenblick, in dem sich diese Fähigkeit einstellt. Weit davon entfernt, ihn in Ruhe abzuwarten, beschleunigt es ihn vielmehr. Es versetzt sein Blut schon vorzeitig in Gährung; schon lange bevor sich die Lüste in ihm regen, kennt es den Gegenstand, auf welchen sich dieselben richten müssen. Nicht die Natur reizt es an, sondern es thut selbst der Natur Gewalt an. Wenn sie es zum Manne macht, bleibt ihr keine Lehre mehr ihm zu ertheilen übrig. In Gedanken war es lange vorher Mann, ehe es in Wirklichkeit dazu herangereift war.
Bei dem wirklichen Gange der Natur geht diese Entwickelung viel stufenweiser und langsamer vor sich. Ganz allmählich erhitzt sich das Blut, erwachen die Lebensgeister und zeigt sich die Sinnlichkeit. Der weise Meister, welcher das Werk leitet, hat seine Sorge darauf gerichtet, erst allen seinen Werkzeugen, bevor er sie in Thätigkeit setzt, die höchste Vollkommenheit zu verleihen; eine lange Unruhe geht den ersten Begierden voraus, eine lange Unwissenheit erhält sie in beständiger Täuschung; man ist lüstern, ohne zu wissen worauf. Das Blut beginnt zu gähren und zu wallen; eine überschäumende Lebenskraft sucht eine Ableitung nach Außen. Das Auge belebt sich und mustert die übrigen Wesen; man fängt an Interesse für die Personen seiner Umgebung zu gewinnen, fängt an zu empfinden, daß der Mensch nicht die Bestimmung erhalten hat, für sich allein zu leben,
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