Emil oder Ueber die Erziehung
und auf diese Weise öffnet sich das Herz endlich menschlichen Gemütsbewegungen und wird der Zuneigung fähig.
Das erste Gefühl, für welches ein sorgfältig erzogener junger Mensch empfänglich wird, ist nicht die Liebe, sondern die Freundschaft. Der ersten Regung seiner erwachenden Einbildungskraft verdankt er die Erkenntniß, daß es noch Andere seines Gleichen gibt. Seine Neigung wendet sich früher der Gattung als dem Geschlechte zu. Darin beruht noch ein weiterer Vortheil der verlängerten Unschuld; vermittelst der sich bildenden Gefühle ist man im Stande, die ersten Keime der Menschlichkeit in das Herzdes Jünglings zu pflanzen, ein Vortheil, der um so höher angeschlagen werden muß, als dies die einzige Zeit im Leben ist, wo dergleichen Bemühungen einen wirklichen Erfolg herbeizuführen vermögen.
Ich habe stets die Erfahrung gemacht, daß junge, frühzeitig verdorbene Leute, die den Frauen und Ausschweifungen ergeben waren, auch einen unmenschlichen und grausamen Charakter hatten. Das Feuer des Temperaments machte sie ungeduldig, rachgierig, wüthend. Ihre nur von einem einzigen Gegenstande erfüllte Einbildungskraft war unfähig, sich noch mit irgend etwas Anderem zu beschäftigen. Sie kannten weder Mitleid noch Erbarmen. Dem geringsten Vergnügen zu Liebe hätten sie Vater und Mutter, ja die ganze Welt geopfert. Ein in glücklicher Einfachheit erzogener Jüngling wird dagegen schon durch die ersten Regungen der Natur zu zarten und liebevollen Gefühlen angetrieben. Rührung bemächtigt sich seines Herzens bei den Leiden seiner Mitmenschen. Er zittert vor Freude, wenn er seinen Spielgefährten wiedersieht; unwillkürlich öffnen sich seine Arme zu innigen Umarmungen, treten in seine Augen Thränen der Rührung. Das Mißfallen, welches er bei Anderen erregt, ruft bei ihm aufrichtiges Bedauern hervor und von ernstlicher Reue wird er ergriffen, wenn er Jemanden gekränkt hat. Läßt er sich durch die Hitze seines sich entzündenden Blutes zum Ungestüm, zum Aufbrausen und zum Zorne fortreißen, so zeigt sich schon im nächsten Augenblicke seine ganze Herzensgüte in dem Ergüsse seiner Reue. Er weint, er seufzt über die Wunde, die er geschlagen hat. Mit seinem eigenen Blute möchte er jeden Blutstropfen, den er vergossen hat, wieder erkaufen. Vor der Erkenntniß seines Fehlers erlischt all sein Zorn, demüthigt sich all sein Stolz. Fühlt er sich selbst beleidigt, so vermag eine einzige Entschuldigung, ein einziges Wort auch seinen heftigsten Grimm zu entwaffnen. Er verzeiht das ihm zugefügte Unrecht mit demselben Edelmuth, mit welchem er das von ihm ausgegangene wieder gut zu machen sucht. Das Jünglingsalter nährt weder Rache noch Haß, sondern nur Mitleid, Theilnahme und Edelmuth. Ohne befürchten zu brauchen,durch die Erfahrung widerlegt zu werden, wage ich die Behauptung aufzustellen, daß ein Kind, welches nicht schon böse Anlagen mit auf die Welt gebracht und welches seine Unschuld bis zum zwanzigsten Jahre bewahrt hat, in diesem Alter der edelmüthigste, beste, liebevollste und liebenswürdigste Mensch sein wird. Dergleichen habt ihr freilich, wie ich mir leicht vorstellen kann, noch nie zu hören bekommen; euere in der ganzen Verderbniß der Collegienwirthschaft erzogenen Philosophen sind auch gar nicht im Stande, es zu wissen.
Die Schwäche des Menschen macht ihn gesellig; die Leiden, die uns allen gemeinsam sind, ziehen uns zum Menschengeschlechte hin. Wir würden demselben nichts schulden, wenn wir nicht Menschen wären. Jede Anhänglichkeit ist ein Zeichen der eigenen Unzulänglichkeit. Bedürfte Niemand der Anderen, so würde auch Niemand daran denken, sich ihnen anzuschließen. [3] Deshalb haben wir nur unserer Schwachheit unser zerbrechliches Glück zu verdanken. Ein wahrhaft glückliches Wesen kann man sich nur als ein einsames vorstellen; Gott allein genießt eines absoluten Glückes; aber wer von uns vermöchte sich von Letzterem einen klaren Begriff zu machen? Wenn irgend ein unvollkommenes Wesen sich selbst genügen könnte, woran könnte es dann wol nach unseren Begriffen einen Genuß finden? Es wäre allein und müßte deshalb elend sein. Ich vermag nicht zu fassen, wie Jemand, dem jedes Bedürfniß nach irgend einem Gute fehlt, etwas lieben kann; ich vermag aber auch nicht zu fassen, wie Jemand, der nichts liebt, glücklich sein kann.
Hieraus folgt, daß wir uns an unsere Mitmenschen weniger um deswillen anschließen, daß wir an ihren Freuden Antheil nehmen, als vielmehr
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