Emil oder Ueber die Erziehung
seine Zunge gebracht. Bevor er wußte, was lieben heißt, hat er zu Niemandem gesagt: »Ich liebe dich von Herzen.« Man hat ihm nicht vorgeschrieben, welches Benehmener in dem Zimmer seines Vaters, seiner Mutter oder seines kranken Hofmeisters beobachten solle; man hat ihn nie in der Kunst unterwiesen, sich traurig zu stellen, wenn er nicht wirklich betrübt war. Er hat nie den Schein angenommen, als weine er über Jemandes Tod, da er noch gar nicht weiß, was sterben ist. Dieselbe Empfindungslosigkeit, die er in seinem Herzen hat, spricht sich auch in seinem ganzen Wesen aus. Gleichgültig gegen Alles, mit Ausnahme seiner eigenen Person, faßt er, wie alle andere Kinder, für Niemanden Interesse. Der einzige Unterschied zwischen ihm und diesen beruht lediglich darin, daß er auch nicht einmal den Schein erregen will, als hege er ein Interesse, und daß er nicht falsch ist wie sie.
Da Emil noch wenig über fühlende Wesen nachgedacht hat, so wird er auch erst spät kennen lernen, was leiden und sterben heißt. Von nun an werden Klagen und Schmerzensschreie beginnen sein Mitgefühl zu erregen; von dem Anblick strömenden Blutes wird er seine Augen abwenden; die Zuckungen eines sterbenden Thieres werden ihn mit wahrer Herzensangst erfüllen, noch ehe er sich über die Entstehung dieser Bewegungen in ihm Rechenschaft ablegen kann. Wäre er stumpfsinnig und roh geblieben, so würden sie sich in ihm gar nicht bilden; wäre er unterrichteter, so würde er ihre Quelle kennen. Er hat schon zu viele Vergleichungen zwischen einzelnen Vorstellungen angestellt, um gar nichts zu empfinden, aber trotzdem noch nicht genug, um sich bewußt zu werden, was er empfindet.
Auf die Weise entsteht das Mitleid, das erste sich auf Andere beziehende Gefühl, welches nach der Ordnung der Natur das menschliche Herz bewegt. Um fühlend und mitleidig zu werden, muß das Kind wissen, daß es Wesen seines Gleichen gibt, welche leiden, was es selbst gelitten, und Schmerzen empfinden, die es selbst empfunden hat, ja die sogar noch von anderen Schmerzen gepeinigt werden, von denen es sich wenigstens den Begriff machen muß, daß es dieselben möglicherweise gleichfalls wird aushalten müssen. Und fürwahr, wodurch sollten wir uns sonst wol zum Mitleid bewegen lassen, wenn nicht dadurch,daß wir gleichsam aus uns heraustreten, uns mit dem leidenden Geschöpfe identificiren und unser eigenes Sein mit dem seinigen vertauschen? Wir leiden nur so viel, als es nach unserem Dafürhalten leidet, und leiden nicht in uns, sondern in ihm. Vor dem Erwachen der Einbildungskraft, die den Menschen aus sich heraus zu versetzen beginnt, wird sich also auch bei Niemandem das Mitgefühl regen.
Was haben wir nun, um dieses erwachende Mitgefühl anzufachen und zu nähren, um es zu leiten und ihm in der ihm von der Natur gegebenen Richtung zu folgen, anders zu thun, als dem jungen Menschen einerseits solche Gegenstände darzubieten, auf welche die zunehmende Kraft seines Herzens zu wirken vermag, die es erweitern, es auch mit anderen Wesen zu theilen bereit sind, und es dahin bringen, daß er sich auch außer sich selbst überall wiederfinde, und andererseits sorgfältig alle solche von ihm fern zu halten, welche das Herz verengern, in sich selbst verschließen und den Egoismus groß zu ziehen geeignet sind? Mit anderen Worten, was haben wir anders zu thun, als Güte, Menschlichkeit, Mitgefühl, Wohlthätigkeit, kurz alle einnehmenden und sanften Gefühle, die den Menschen von Natur so wohlgefallen, in ihm zu erwecken, und dagegen das Hervortreten des Neides, der Habsucht, des Hasses so wie aller übrigen abstoßenden und grausamen Leidenschaften zu verhüten, die gleichsam das Gefühl nicht nur auf Null herabdrücken, sondern es sogar noch in eine negative Größe verwandeln, und demjenigen, welcher von ihnen beseelt ist, nichts als Qual bereiten.
Alle meine bisherigen Betrachtungen glaube ich in zwei oder drei bestimmte, klare und leicht faßliche Grundsätze kurz zusammenfassen zu können.
Erster Grundsatz
Es gehört nicht zu den Eigenschaften des menschlichen Herzens, sich an die Stelle derer zu versetzen, welche glücklicher sind als wir, sondern es versetzt sich lediglich an die Stelle derer, welche mehr zu beklagen sind als wir.
Etwaige Ausnahmen von dieser Regel sind es mehrdem Scheine nach als in Wirklichkeit. So versetzt man sich z. B. nicht an die Stelle des Reichen oder des Großen, zu dem man Zuneigung gefaßt hat. Selbst wenn man ihm aufrichtig
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