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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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zugethan ist, eignet man sich immer nur einen Theil seines Wohlseins an. Bisweilen liebt man ihn auch noch im Unglücke; so lange es ihm aber gut geht, hat er keinen wahren Freund als denjenigen, der sich vom Scheine nicht täuschen läßt und ihn bei all seinem Glücke mehr beklagt als beneidet.
    Man wird von dem Glücke gewisser Stände, z. B. dem der Landleute und der Hirten, gerührt. Die Freude, diese guten Leute glücklich zu sehen, wird durch keinen neidischen Gedanken vergiftet; man nimmt in Wahrheit einen aufrichtigen Antheil an ihnen. Weshalb dies? Deshalb, weil wir uns bewußt sind, daß es jeden Augenblick in unserer Macht liegt, zu diesem Stande des Friedens und der Unschuld herabzusteigen und desselben Glückes theilhaftig zu werden. Das bleibt immer noch unsere letzte Zuflucht, eine Zuflucht, die uns nur mit angenehmen Ideen erfüllt, da unser bloßer Wille genügt, uns in den Besitz dieses Genusses zu setzen. Es bereitet stets Vergnügen, seine Hilfsmittel zu überschauen und sein eigenes Gut zu betrachten, selbst für den Fall, daß man keinen Gebrauch davon machen will.
    Um einen jungen Mann mit Menschenliebe zu erfüllen, muß man ihn also, wie sich aus obiger Betrachtung ergibt, nicht das glänzende Loos Anderer bewundern lassen, sondern man muß ihm dasselbe vielmehr von seiner Kehrseite zeigen, ja ihm sogar eine förmliche Furcht vor einem solchen Loose einjagen. Dann wird er sich consequenterweise einen neuen, noch von Niemandem betretenen Weg zum Glücke bahnen müssen.

Zweiter Grundsatz
    Nur diejenigen Uebel Anderer erregen unser Bedauern, vor denen man sich selbst nicht sicher hält.
    Non ignara mali, miseris succurrere disco. Aen. I. 630.
    Ich kenne nichts so Schönes, so Tiefes, so Ergreifendes und Wahres wie die Worte dieses Verses.
    Weshalb fühlen die Könige kein Mitleid mit ihren Unterthanen? Deshalb, weil sie sich in ihren eigenen Augen nicht wie gewöhnliche Menschen vorkommen. Weshalb sind die Reichen so hart gegen die Armen? Weil sie nicht befürchten, ebenfalls in Armuth zu gerathen. Weshalb blickt der Adel mit so großer Verachtung auf das Volk? Weil er niemals in den bürgerlichen Stand hinabsinken kann. Weshalb sind die Türken im Allgemeinen menschlicher und gastfreundlicher als wir? Weil bei ihrer mit völliger Willkür verfahrenden Regierung die Größe und das Glück der Einzelnen beständig unsicher und schwankend ist, und sie deshalb Niedrigkeit und Elend nicht als Uebel betrachten, die nie an sie herantreten könnten. [4] Jeder kann morgen in derselben Lage sein, in welcher sich der heute von ihm Unterstützte befindet. Diese Wahrnehmung, die in den morgenländischen Romanen überall zu Tage tritt, ist die Ursache, daß sie für uns etwas ungemein Rührendes haben, wie es das ganze Aufgebot unserer trockenen Moral nicht hervorzubringen vermag.
    Gewöhnt deshalb euren Zögling nicht, von der Höhe seiner hervorragenden Stellung auf die Kümmernisse der Unglücklichen und die Mühen der Elenden herabzublicken, und hofft nicht, daß ihr ihn mit Theilnahme erfüllen könnt, so lange er sie als Uebel betrachtet, die ihm völlig unnahbar seien. Macht ihm vielmehr recht begreiflich, daß das Schicksal dieser Unglücklichen auch ihm vorbehalten sein kann, daß alle ihre Uebel binnen Kurzem auch über ihn hereinbrechen können, daß tausend unvorhergesehene und unvermeidliche Ereignisse ihn jeden Augenblick in ihren Leidensgenossen zu verwandeln vermögen. Haltet ihn an, sich weder auf Geburt, noch auf Gesundheit, noch auf Reichthum zu verlassen; haltet ihm eindringlich die häufigen Wechselfälle des Schicksals vor. Macht ihn mit dennur allzu oft vorkommenden Beispielen bekannt, wo Menschen, die noch eine weit höhere Stellung als er einnahmen, noch tief unter jene Unglücklichen hinabgesunken sind, ob durch eigene oder fremde Schuld, kommt hierbei nicht in Frage; hat er denn überhaupt schon eine richtige Vorstellung davon, was Schuld ist? Erlaubt euch nie einen Eingriff in die Ordnung seiner Kenntnisse und gebt ihm nur über Dinge, die seiner Fassungskraft entsprechen, die nöthige Aufklärung. Er bedarf keines hohen Grades von Gelehrsamkeit, um zu begreifen, daß ihm alle menschliche Weisheit nicht dafür einzustehen vermag, ob er in der nächsten Stunde noch leben oder todt sein werde; ob er sich nicht, noch ehe die Nacht einbricht, zähneknirschend unter den heftigsten Nierenschmerzen werde winden müssen, ob er in einem Monate reich oder arm sein werde, oder ob ihm nicht

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