Emil oder Ueber die Erziehung
bin, ich kenne nächst ihm nichtsBesseres als meine Gattung, und wenn ich mir meine Stellung in der Ordnung der Wesen selbst zu wählen hätte, für was Besseres könnte ich mich entscheiden, als dafür, Mensch zu sein?
Statt mich stolz zu machen, rührt mich diese Betrachtung vielmehr, denn diese Stellung ist nicht ein Act meiner freien Wahl und kann nicht dem Verdienste eines Wesens angerechnet werden, welches noch gar nicht existirte. Kann ich mich aber wol in solcher Weise ausgezeichnet sehen, ohne mir zugleich Glück zu wünschen, diese ehrenvolle Stelle einnehmen zu dürfen, und ohne die Hand zu segnen, welche sie mir angewiesen hat? Bei meiner ersten Einkehr in mich selbst erwacht in meinem Herzen ein Gefühl der Dankbarkeit und Segnung gegen den Schöpfer meines Geschlechts, und dieses Gefühl treibt mich zu meiner ersten Huldigung der wohlthätigen Gottheit. Ich bete die höchste Macht an und fühle mich von ihren Wohlthaten gerührt. Zu diesem Cultus bedarf ich keiner Anleitung, er ist mir von der Natur selbst eingegeben. Ist es nicht eine natürliche Folge der Liebe zu uns selbst, daß wir den ehren, der uns beschützt, und den lieben, der uns wohl will?
Wenn ich nun aber, um jetzt auch meine individuelle Stellung innerhalb meiner Gattung kennen zu lernen, unter den verschiedenen Rangstufen und den Menschen, welche dieselben einnehmen, Umschau halte, was wird dann aus mir? Welch ein Schauspiel! Wo ist die Ordnung, die ich vorher beobachtet hatte? Das Bild der Natur zeigte mir nur Harmonie und Ebenmaß, das des menschlichen Geschlechts stellt sich mir nur als Verwirrung und Unordnung dar! Unter den Elementen herrscht Einklang, und die Menschen leben im Chaos! Die Thiere sind glücklich, ihr König allein ist elend! O Weisheit, wo sind deine Gesetze? O Vorsehung, regierst du so die Welt? Gnadenvolles Wesen, was ist aus deiner Macht geworden? Auf Erden sehe ich Schmerz und Leiden.
Sollten Sie wol glauben, junger Freund, daß sich gerade aus diesen traurigen Betrachtungen und diesen scheinbaren Widersprüchen in meinem Geiste die erhabenen Vorstellungen von der Seele entwickelten, auf welche michmeine Untersuchungen bis dahin noch nicht geführt hatten? Indem ich über die menschliche Natur nachdachte, glaubte ich in ihr zwei völlig verschiedene Principien zu entdecken, deren eine ihn zur Erforschung der ewigen Wahrheiten, zur Liebe der Gerechtigkeit und des moralisch Schönen, bis zu den Regionen der intellectuellen Welt erhob, deren Betrachtung die Wonne des Weisen bildet, während das andere ihn sich nicht über sein eigenes Ich erheben ließ, ihn der Herrschaft der Sinne und ihrer Dienerinnen, der Leidenschaften, unterwarf und durch sie alle dem hinderlich entgegentrat, was ihm das Gefühl des ersteren einflößte. Als ich mich von diesen beiden entgegengesetzten Antrieben fortgerissen fühlte und den steten Kampf in meinem Herzen wahrnahm, sagte ich zu mir selbst: Nein, der Mensch ist keine Einheit; ich will und will auch nicht, ich fühle mich zugleich frei und unfrei, ich erkenne und liebe das Gute und thue trotzdem das Böse; ich zeige mich thätig, wenn ich auf die Vernunft höre, aber passiv, wenn ich mich von meinen Leidenschaften fortreißen lasse, und unterliege ich, so besteht meine größte Qual in dem Gefühle, daß ich hätte Widerstand leisten können.
Hören Sie mich mit Vertrauen an, junger Mann, ich werde stets aufrichtig sein. Wenn das Gewissen das Resultat der Vorurtheile ist, so habe ich unzweifelhaft Unrecht, und es gibt keine nachweisbare Moral. Wenn es nun aber ein dem Menschen natürlicher Hang ist, sich Allem vorzuziehen, und wenn dessenungeachtet dem menschlichen Herzen ein ursprüngliches Gerechtigkeitsgefühl angeboren ist, dann überlasse ich demjenigen, welcher den Menschen zu einem einfachen Wesen macht, die Lösung dieser Widersprüche und dann will auch ich zugeben, daß er nur aus einer einzigen Substanz bestehe.
Sie werden bemerken, daß ich mit dem Worte Substanz im Allgemeinen ein Wesen bezeichne, welches mit irgend einer ursprünglichen Eigenschaft ausgestattet ist, wobei ich von allen besonderen oder secundären Modificationen absehe. Lassen sich nun alle ursprünglichen Eigenschaften, die uns bekannt sind, in einem und demselben Wesen vereinigen, so darf man auch nur eine Substanzannehmen. Kommen jedoch solche vor, die sich gegenseitig ausschließen, so muß es auch eben so viele verschiedene Substanzen geben, als man dergleichen Ausschließungen vornehmen
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