Emil oder Ueber die Erziehung
fühlbar gemacht haben, nichts sein. Läßt uns die Natur nicht um unserer Erhaltung willen unsere Bedürfnisse empfinden? Gibt uns der körperliche Schmerz nicht ein Zeichen, daß in der Maschine etwas in Unordnung gerathen ist, und eine Mahnung, derselben schleunigst abzuhelfen? Und nun der Tod?… Vergiften die Bösen nicht ihr und unser Leben? Wer möchte wol immer zu leben wünschen? Der Tod ist das Mittel gegen die Uebel, welche wir uns selbst zufügen. Die Natur hat gewollt, daß wir nicht ewig leiden sollen. Wie wenigen Uebeln ist doch der Mensch unterworfen, der in seiner ursprünglichen Einfachheit fortlebt! Fast ohne Krankheiten wie auch ohne Leidenschaften verbringt er seine Tage; den Tod sieht er weder voraus noch fühlt er ihn; sollte er ihn jedoch fühlen, so machen ihm seine Leiden denselben auch wünschenswerth, und sofort hört er dann auf, ein Uebel für ihn zu sein. Begnügten wir uns damit, das zu sein, was wir einmal sind, so würden wir unser Schicksal nicht zu beklagen haben, aber dadurch, daß wir einem eingebildeten Glücke nachjagen, öffnen wir tausenderlei wirklichen Uebeln den Weg zu uns. Wer nicht ein kleines Leid zu ertragen versteht, muß sich darauf gefaßt machen, viele über sich ergehen zu lassen. Wenn man seine Gesundheit durch einen zügellosen Lebenswandel untergraben hat, so bemüht man sich, sie durch Arzneimittel wieder herzustellen, und fügt auf diese Weise zu dem Uebel, welches man fühlt, noch dasjenige hinzu, welches man fürchtet. Die Voraussicht des Todes vermehrt seine Schrecken und beschleunigt seine Annäherung. Je mehr man sich bemüht, ihm zu entfliehen, desto mehr fühlt man seine Nähe, und in Folge der Angst verwandelt sich das ganze Leben in ein langsames Dahinsterben, indem man gegen die Natur um der Uebel willen murrt, die man sich doch nur durch eigene Schuld zugezogen hat, als man die Gesetze derselben verletzte.
Mensch, forsche nicht länger nach dem Urheber des Uebels. Du selbst bist dieser Urheber. Es ist kein anderes Uebel vorhanden als dasjenige, welches du begehst oder leidest,und beides geht von dir selber aus. Das allgemeine Uebel könnte nur in der Unordnung bestehen, und ich erblicke in dem Weltsysteme eine Ordnung, die sich stets gleich bleibt. Das besondere Leiden macht sich nur in der Empfindung des leidenden Wesens fühlbar, und diese Empfindung hat der Mensch nicht von der Natur erhalten, sondern selbst in sich erweckt. Wer wenig Betrachtungen angestellt hat und deshalb auch weder Erinnerung noch Voraussicht besitzt, wird dem Schmerze nur in geringem Grade ausgesetzt sein. Beseitigt unsere unglückseligen Fortschritte, beseitigt unsere Irrthümer und Laster, beseitigt das Menschenwerk, und Alles ist gut.
Wo Alles gut ist, gibt es nichts Ungerechtes. Gerechtigkeit ist von der Güte untrennbar; die Güte ist die nothwendige Wirkung einer grenzenlosen Macht und der Selbstliebe, die als eine wesentliche Eigenschaft eines jeden sich fühlenden Wesens betrachtet werden muß. Derjenige, welcher Alles kann, gibt seinem Dasein gleichsam vermittelst dem aller anderer Wesen eine größere Ausdehnung. Im Hervorbringen und Erhalten äußert sich deshalb die unaufhörliche Thätigkeit der Macht. Gott ist nicht ein Gott der Todten; er würde nicht im Stande sein zu zerstören und Uebles zuzufügen, ohne sich selbst zu schaden. Wem alle Macht zu Gebote steht, der kann nur wollen, was gut ist. [29] Deshalb muß auch das allgütige Wesen, weil es allmächtig ist, zugleich auch das allergerechteste sein; sonst würde es mit sich selbst in Widerspruch treten, denn der Act der Liebe zur Ordnung, welcher die Ordnung erzeugt, wird Güte, jener dagegen, welcher die Ordnung erhält, Gerechtigkeit genannt.
Gott, sagt man, ist seinen Geschöpfen nichts schuldig. Ich hingegen glaube, daß er ihnen Alles schuldig ist, was er ihnen dadurch versprach, daß er sie ins Dasein rief. In der Vorstellung eines Gutes, die er ihnen gab undin dem Bedürfnisse nach demselben, das er sie empfinden ließ, liegt das Versprechen eingeschlossen, ihnen dies Gut zu gewähren. Je mehr ich in mich einkehre, je mehr ich überlege, desto klarer lese ich in meiner Seele die Worte geschrieben: »Sei gerecht, und du wirst glücklich sein.« Trotzdem hat sich dies bei dem gegenwärtigen Zustande der Dinge noch nicht erfüllt; dem Bösen geht es wohl, und der Gerechte bleibt unterdrückt. Man lasse aber auch nicht außer Acht, wie empört wir uns fühlen, wenn sich diese Erwartung getäuscht
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