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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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kann. Sie werden darüber nachdenken; ich aber brauche, was Locke auch immer darüber sagen möge, nur die Ausdehnung und Theilbarkeit der Materie zu kennen, um dessen sicher zu sein, daß sie nicht denken kann; und wenn ein Philosoph auf den Einfall käme, mir gegenüber zu behaupten, daß die Bäume fühlten und die Felsen dächten, [28] so könnte ich in ihm, wenn es ihm auch gelänge, mich mit seinen spitzfindigen Schlußfolgerungen in Verlegenheit zu setzen, doch nur einen Sophisten erblicken, der keinen Glauben verdient, und den Steinen lieber Empfindung zuschreiben, als dem Menschen eine Seele zugestehen möchte.
    Stellen wir uns einen Tauben vor, welcher läugnet, daß es Töne gibt, weil sie sein Ohr noch nie hat erklingen hören. Ich zeige ihm ein Saiteninstrument, dem ich durch Anschlagen eines anderen, verborgen gehaltenen und gleich gestimmten Instruments Töne entlocke. Der Taube gewahrt die schwingenden Bewegungen der Saite und ich sage zu ihm: »Der Ton bringt diese Wirkung hervor.« »Keineswegs,« erwidert er, »die Ursache der schwingenden Bewegungen der Saite liegt in ihr selbst. Es ist eine allen Körpern gemeinsame Eigenschaft, in solche Schwingungen zu gerathen.« »Zeige mir dann auch,« entgegne ich, »dieses Schwingen in den andern Körpern oder wenigstens die Ursache desselben in dieser Saite.« »Das,« erwidert der Taube, »bin ich freilich nicht im Stande; weshalb soll ich aber, weil ich nicht zu begreifen vermag, wie diese Saite in Schwingungen geräth, es mir gerade durch eure Töne erklären, von denen ich nicht den geringsten Begriff habe? Das hieße ja, eine dunkle Thatsache durch eine noch dunklere Ursache erklären wollen. Sorgt entweder dafür, daß ich eure Töne vernehmen kann, oder ich behaupte, daß es gar keine gibt.«
    Je mehr ich über das Denken und die Natur des menschlichen Geistes nachdenke, desto mehr überzeuge ich mich davon, daß die Schlußfolgerungen der Materialisten denen dieses Tauben gleichen. Sie sind wahrlich taub gegen die innere Stimme, welche ihnen in einem Tone, er sich nur schwer mißverstehen läßt, zuruft: Eine Maschine denkt nicht; Ueberlegung kann weder durch Bewegung noch durch eine Gestalt hervorgebracht werden. Es lebt in dir ein Etwas, welches die Bande, die es zurückhalten, zu zerreißen sucht. Dein Maßstab kann der Raum nicht sein, das ganze Weltall ist nicht groß genug für dich. Deine Empfindungen, deine Wünsche, deine Unruhe, deinStolz sogar haben einen anderen Urgrund als dieser beschränkte Körper, an welchen du dich gefesselt fühlst.
    Kein materielles Wesen ist durch sich selbst thätig, ich aber bin es. Vergeblich wird man mir dies zu bestreiten suchen, ich fühle es, und dies Gefühl, welches zu mir spricht, ist stärker als die Vernunft, welche es bekämpft. Ich besitze einen Körper, auf welchen die andern eben so einwirken, wie er auf sie. Diese wechselseitige Einwirkung auf einander ist unzweifelhaft; aber mein Wille ist von meinen Sinnen unabhängig; ich stimme bei oder widerstehe, ich unterliege oder bleibe Sieger, immer sagt mir eine innere Stimme, ob ich gethan habe, was ich habe thun wollen, oder ob ich nur meinen Leidenschaften nachgegeben habe. Zwar habe ich stets die Macht zu wollen, aber nicht immer die Macht zur Ausführung des Gewollten. Wenn ich mich den Versuchungen ergebe, so lasse ich mich bei meinem Handeln durch den Antrieb äußerer Objecte bestimmen. Wenn ich mir dagegen wegen meiner Schwäche Vorwürfe mache, so schenke ich nur meinem Willen Gehör. Ich bin durch meine Laster Sklave und frei durch meine Gewissensbisse. Das Gefühl meiner Freiheit verliert sich in mir nur dann, wenn ich sittlich so tief sinke, daß ich die Stimme der Seele verhindere, sich gegen das Gesetz des Körpers zu erheben.
    Ich kenne den Willen nur, in so weit ich mir des meinigen bewußt werde, und der Verstand ist mir nicht besser bekannt. Wenn man mich nach der Ursache fragt, welche meinen Willen bestimmt, so frage ich meinerseits nach der Ursache, welche mein Urtheil bestimmt; denn es ist klar, daß diese beiden Ursachen eigentlich nur eine einzige ausmachen; und wenn man genau begreift, daß der Mensch beim Fällen seiner Urtheile eine Tätigkeit ausübt, daß sein Verstand in nichts Anderem als in der Fähigkeit zu vergleichen und zu urtheilen besteht, dann wird man auch begreiflich finden, daß seine Freiheit nur eine ähnliche oder von jener abgeleitete Fähigkeit ist. Erwählt das Gute nach dem, was seinem Urtheile

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