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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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sieht. Das Gewissen erhebt sich und murrt gegen seinen Schöpfer, seufzend ruft es ihm zu: »Du hast mich getäuscht.«
    Vermessener, ich habe dich getäuscht! Wer hat dir das gesagt? Ist deine Seele vernichtet? Hast du aufgehört zu sein? O Brutus, o mein Sohn! Schände dein edles Leben nicht, indem du ihm freiwillig ein Ende machst! Laß nicht mit deinem Körper zugleich deine Hoffnung und deinen Ruhm auf den Feldern von Philippi zurück! Weshalb sagst du: »Die Tugend ist nichts,« während du schon im Begriffe stehst, den Lohn für die deinige zu empfangen? Du werdest sterben, denkst du? Nein, nun erst beginnt dein wahres Leben, und ich werde Alles halten, was ich dir versprochen habe.
    Dem Murren der ungeduldigen Sterblichen nach sollte man glauben, Gott sei ihnen den Lohn schuldig, ehe sie ihn verdient haben, und er habe die Verpflichtung, ihnen ihre Tugend im Voraus zu zahlen. O, laßt uns nur erst gut sein, dann werden wir auch glücklich sein! Laßt uns den Preis nicht vor dem Siege, noch den Lohn vor der Arbeit fordern! »Nicht in den Schranken,« sagt Plutarch, »werden die Sieger in unseren heiligen Spielen gekrönt, sondern erst nachdem sie die Rennbahn durchlaufen haben.«
    Wenn die Seele immateriell ist, so vermag sie auch den Körper zu überleben; und wenn sie ihn überlebt, so steht die Vorsehung gerechtfertigt da. Hätte ich auch keinen andern Beweis für die Immaterialität der Seele als den Triumph des Bösen und die Unterdrückung des Gerechten in dieser Welt, so würde mich schon dies allein von jedemZweifel zurückhalten. Eine so schreiende Dissonanz in der allgemeinen Harmonie würde mich antreiben, ihre Lösung zu suchen. Ich würde mir sagen: Mit dem Leben endet nicht Alles für uns, Alles kehrt mit dem Tode in die ursprüngliche Ordnung zurück. Die Frage: Wo ist der Mensch, wenn alles Sinnliche an ihm zerstört ist? würde mich freilich in einige Verlegenheit setzen. Doch auch diese Frage verliert alle Schwierigkeit für mich, sobald ich zwei Substanzen angenommen habe. Da ich während meines leiblichen Lebens nur durch meine Sinne wahrzunehmen vermag, so ist es sehr einleuchtend, daß mir das, was ihnen nicht unterworfen ist, entgehen muß. Es läßt sich nun ganz wohl begreifen, daß sich nach Aufhebung der Vereinigung des Körpers und der Seele ersterer sich auflösen und letztere fortbestehen kann. Weshalb sollte auch die Vernichtung des Körpers die Vernichtung der Seele nach sich ziehen? Im Gegentheile befanden sie sich bei der großen Verschiedenheit ihrer Natur in Folge ihrer Vereinigung in einem gewaltsamen Zustande und kehren nun beide, sobald diese aufhört, in ihren natürlichen Zustand zurück. Die thätige und lebende Substanz gewinnt alle Kraft wieder, die sie aufwandte, um die passive und todte Substanz in Bewegung zu setzen. Ach, meine Fehler machen es mir nur allzu fühlbar, daß der Mensch während seines Lebens eigentlich nur halb lebt, und das Leben der Seele erst mit dem Tode des Körpers beginnt.
    Was für ein Leben ist dies nun aber? Und ist die Seele ihrer Natur nach unsterblich? Ich weiß es nicht. Mein begrenzter Verstand begreift nichts Schrankenloses. Alles, was man unendlich nennt, ist mir unbegreiflich. Was kann ich wol verneinen oder bejahen? Vermag ich ein Urtheil über Ideen zu fällen, die mir ganz fremd sind? Ich glaube, daß die Seele den Körper so lange überlebt, als es die Aufrechterhaltung der Ordnung erheischt; wer weiß, ob dies ihre ewige Fortdauer bedingt? So viel erkenne ich; daß sich der Körper in Folge der Trennung von der Seele zerstört und auflöst, aber ich vermag mir nicht eine ähnliche Zerstörung des denkenden Wesens vorzustellen, und da ich nicht im Stande bin, mir zu denken,wie es sterben kann, so nehme ich an, daß es nicht stirbt. Da mir diese Annahme Trost gewährt und nichts Unvernünftiges hat, weshalb sollte ich Anstand nehmen, mich derselben hinzugeben?
    Ich bin mir meiner Seele bewußt, ich erkenne sie durch die Empfindung und das Denken; ich weiß, daß sie ist, wenn ich auch nicht weiß, worin ihr Wesen besteht. Ueber Ideen, die ich nicht habe, kann ich nicht aburtheilen. Nur so viel weiß ich mit Gewißheit, daß sich das Bewußtsein (die Identität) des Ich nur durch das Gedächtniß verlängert, und daß ich, um in Wirklichkeit ein und derselbe zu sein, mich erinnern muß, daß ich schon vorher gewesen bin. Nun würde ich mich aber nach meinem Tode nicht dessen erinnern können, was ich während meines Lebens

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