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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Stein auf seinem Platze liegen bleiben oder gleich einem jungen Hunde kriechen und rutschen zu sehen.
    In unbehaglicher Weise würden sich die Bedürfnisse bei ihm regen, ohne daß er sie noch kenne und ohne daß er ein Mittel zu ihrer Befriedigung ausfindig zu machen vermöchte. Es gibt keine unmittelbare Communication zwischen den Muskeln des Magens und denen der Arme und Beine, welche denselben, selbst wenn er von Nahrungsmitteln umgeben wäre, dazu bewegen könnte, auch nur einen Schritt zu thun, um sich ihnen zu nähern, oder auch nurdie Hand auszustrecken, um sie zu ergreifen, und da sein Körper dem Wachsthum nicht mehr unterworfen, seine Glieder bereits völlig entwickelt wären, und da er folglich weder die Unruhe der Kinder besäße, noch sich gleich diesen in fortwährender Bewegung befände, so würde er Hungers sterben können, bevor er sich bewegen ließe, sich selbst nach seiner Nahrung umzusehen. Wie geringe Untersuchungen man auch bisher über den Gang und den stufenmäßigen Fortschritt unserer Erkenntniß angestellt hat, so läßt sich doch das wenigstens nicht in Abrede stellen, daß dieser fast primitive Zustand der Unwissenheit und Stumpfsinnigkeit des Menschen naturgemäß ist, bis derselbe durch die Erfahrung oder durch seine Mitmenschen etwas gelernt hat.
    Man kennt also den Anfangspunkt oder man kann ihn wenigstens kennen, von dem ein Jeder von uns auszugehen hat, um nach und nach das gewöhnliche Maaß der geistigen Entwickelung zu erreichen; aber wer vermag anzugeben, wo derselben Grenzen gesetzt sind? Jeder macht größere oder geringere Fortschritte je nach seinen natürlichen Anlagen, seinem Geschmacke, seinen Bedürfnissen, seinem Talente, seinem Eifer und der Gelegenheit, die sich ihm darbietet, sich weiter auszubilden. Mir ist kein Philosoph bekannt, der so vermessen gewesen wäre, die Behauptung aufzustellen: das ist die Grenze, welche der Mensch erreichen kann, aber nimmermehr zu überschreiten vermag. Wir wissen nicht, bis zu welcher Höhe uns unsere Natur emporzusteigen gestattet; Niemand von uns hat den Abstand gemessen, der sich möglicher Weise zwischen diesem und jenem Menschen auffinden läßt. Wer hegte wol eine so niedrige Gesinnung, daß ihn dieser Gedanke nie erwärmte und der nicht bisweilen mit Stolz zu sich selber sagte: Wie Viele habe ich bereits übertroffen, wie Viele werde ich noch einholen! Warum sollte einer meines Gleichen nicht weiter kommen als ich?
    Ich wiederhole es: die Erziehung des Menschen beginnt von dem Augenblick seiner Geburt an; bevor er noch sprechen kann, bevor sein Verständniß geweckt ist, unterrichtet er sich schon durch die Erfahrung. Letztere geht dem eigentlichen Unterrichte voraus. Viel hat schon das Kindmit dem Augenblick gewonnen, wo es seine Amme erkennt. Man würde über die Kenntnisse selbst des ungebildetsten Menschen in Erstaunen gerathen, wenn man seine Fortschritte von dem Augenblicke seiner Geburt an bis zu dem grade erreichten Lebensabschnitte verfolgen wollte. Theilte man das ganze menschliche Wissen in zwei Theile, deren einer die allen Menschen gemeinsamen Kenntnisse, der andere das Wissen umfaßt, welches sich allein die Gelehrten anzueignen vermögen, so würde letzterer im Vergleiche mit dem ersteren äußerst beschränkt sein. Leider aber pflegen wir die gemeinsamen Errungenschaften kaum zu beachten, weil wir sie unbewußt und sogar noch vor Eintritt in das Alter machen, in welchem sich die Vernunft allmählich entwickelt, weil sich überhaupt das Wissen nur durch die gar sehr verschiedenen Stufen desselben bemerkbar macht, und weil, genau wie in den algebraischen Gleichungen, die gemeinschaftlichen Größen sich gegenseitig aufheben und deshalb keine Geltung haben.
    Selbst bei den Thieren lassen sich große Fortschritte wahrnehmen. Sie haben Sinne und müssen sie erst gebrauchen lernen; sie haben Bedürfnisse und müssen dieselben befriedigen lernen; sie müssen fressen, laufen, fliegen lernen. Die vierfüßigen Thiere, die sich von Geburt an auf ihren Füßen halten, können trotzdem noch nicht laufen. Ihre ersten Schritte zeigen, wie unsichere Versuche es sind. Vögel, die ihren Käfigen entronnen sind, können nicht fliegen, weil sie noch nie geflogen haben. Alles ist für beseelte und empfängliche Wesen Unterricht. Wenn die Pflanzen eine fortschreitende Bewegung hätten, so müßten sie auch Sinne haben und sich Kenntnisse erwerben, sonst würden die Gattungen bald zu Grunde gehen.
    Die ersten Eindrücke, welche

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