Emil oder Ueber die Erziehung
die Kinder erhalten, sind ausschließlich äußerlicher Natur. Nur für angenehme und für schmerzliche Empfindungen sind sie empfänglich. Da sie weder zu gehen noch etwas zu ergreifen vermögen, so gehört viel Zeit dazu, ehe sie sich allmählich die Begriffe bilden, welche ihnen die Gegenstände außer ihnen in ihrer wahren Gestalt zeigen. Während sich aber diese Gegenstände für sie mehr und mehr erweitern, sich, da das Kinddie Entfernungen unterscheiden lernt, so zu sagen mehr und mehr von ihren Augen entfernen und bestimmte Dimensionen und Gestalten annehmen, unterwirft die fortwährende Wiederkehr derselben äußeren Eindrücke diese der Macht der Gewohnheit. Man sieht, wie sie ihre Augen unaufhörlich dem Lichte zuwenden, und wie dieselben, wenn es von der Seite kommt, unbewußt diese Richtung annehmen, so daß man ihr Gesicht beständig nach dem Lichte kehren muß, damit sie nicht schielen lernen. Auch muß man sie von früh auf an die Finsterniß gewöhnen, sonst weinen und schreien sie, sobald sie sich im Dunkeln befinden. Eine zu genaue Regelung der Nahrung und des Schlafes macht ihnen dieselben nach Ablauf der gewohnten Zwischenzeiten zu einem Bedürfnisse, und bald entspringt das Verlangen darnach nicht mehr dem Bedürfnisse, sondern der Gewohnheit, oder vielmehr fügt die Gewohnheit dem natürlichen Bedürfnisse ein neues hinzu, und diesem Uebelstande muß man vorbeugen.
Keine Gewohnheit zu haben muß des Kindes einzige Gewohnheit sein. Man trage es sowol auf dem einen wie auf dem andern Arme; man gewöhne es nicht daran eine Hand lieber als die andere zu geben oder sich derselben öfter zu bedienen, zu bestimmten Stunden zu essen, zu schlafen, zu wachen, oder weder bei Tage noch bei Nacht allein zu bleiben. Schon von früh auf muß man es für die dereinstige selbstständige Benutzung seiner Freiheit und Anwendung seiner Kräfte dadurch vorbereiten, daß man dem Körper seine natürliche Gewohnheit läßt, es in den Stand setzt, stets Herr seiner selbst zu sein und seinen Willen, sobald es erst einen haben wird, überall zur Ausführung zu bringen.
Sobald das Kind die Gegenstände zu unterscheiden beginnt, ist es von Wichtigkeit, unter denen, welche man ihm zeigen will, eine sorgfältige Auswahl zu treffen. Alle neue Gegenstände interessiren natürlicher Weise den Menschen. Er fühlt sich so schwach, daß er alles Unbekannte fürchtet. Die Gewohnheit, neue Gegenstände zu sehen, ohne sich davon unangenehm berührt zu fühlen, zerstört diese Furcht. Die Kinder, welche in sauberen Häusern, in denen man keine Spinnen leidet, aufgezogen sind, fürchten sich vor denSpinnen, und diese Furcht bleibt ihnen oft, wenn sie erwachsen sind. Niemals habe ich jedoch Bauern oder Bäuerinnen gesehen, welche sich vor Spinnen gefürchtet hätten.
Warum sollte also die Erziehung eines Kindes nicht beginnen, bevor es zu sprechen und zu begreifen im Stande ist, zumal da schon die Auswahl der Gegenstände, die man demselben zeigt, geeignet ist, es furchtsam oder beherzt zu machen? Mein Wunsch ist, daß man es an den Anblick neuer Gegenstände, häßlicher, widerlicher, auffallender Thiere gewöhne, freilich nur nach und nach, erst von Weitem, bis es sich daran gewöhnt hat, und es endlich wagt, wenn es gesehen hat, wie Andere sie berühren, sie selbst anzufassen. Wenn es in seiner Kindheit den Anblick von Kröten, Schlangen, Krebsen ohne Entsetzen zu ertragen vermochte, dann wird es auch, wenn es erwachsen ist, jedwedes Thier ohne Grauen ansehen können. Wer täglich Schrecken erregende Gestalten vor Augen hat, für den verlieren sie alles Grauen.
Alle Kinder fürchten sich vor Masken. Zuerst werde ich Emil eine Maske zeigen, die ein freundliches und hübsches Gesicht darstellt. Darauf muß Jemand dieselbe in seiner Gegenwart vor das Gesicht nehmen; ich fange zu lachen an, Alle lachen und das Kind fällt endlich in das Gelächter der Uebrigen ein. Nach und nach gewöhne ich es an weniger freundliche Züge der Masken und endlich an geradezu abstoßende Gesichter. Habe ich dabei die rechte Stufenfolge inne gehalten, so wird das Kind so weit davon entfernt sein, sich vor diesen zu entsetzen, daß es vielmehr über sie eben so sehr wie über die erste Maske lachen wird. Dann brauche ich nicht mehr zu befürchten, daß man ihm durch Masken Furcht einzujagen vermag.
Homer erzählt, daß bei Hektors Abschied von der Andromache der kleine Astyamax vor dem flatternden Federbusche auf dem Helme seines Vaters erschrocken
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