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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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abzuhalten. [25] Legt es in einenicht zu enge, gut gepolsterte Wiege, [26] wo es sich bequem und gefahrlos bewegen kann. Beginnt es dann kräftiger zu werden, so laßt es im Zimmer umher kriechen; laßt es seine kleinen Glieder dehnen und strecken, und ihr werdet sehen, wie sie sich von Tage zu Tage kräftiger entwickeln. Wenn ihr es dann mit einem wohleingewindelten Kinde desselben Alters vergleicht, werdet ihr über die Verschiedenheit ihrer Fortschritte erstaunt sein. [27]
    Man muß sich dabei natürlich auf den entschiedensten Widerspruch seitens der Ammen gefaßt machen, denen ein fest eingepacktes Kind bedeutend weniger Mühe macht als ein solches, welches eine unaufhörliche Überwachungerheischt. Außerdem wird die Verunreinigung desselben bei einem offenen Kleidchen in die Augen fallender, und die Amme muß sich deshalb öfter der Mühe unterziehen, das Kind zu reinigen. Endlich wird auch noch die bestehende Sitte vorgeschützt, ein Grund, der in gewissen Ländern in den Augen aller Volksklassen völlig unwiderlegbar scheint.
    Die Ammen muß man nicht mit Vernunftgründen zu widerlegen suchen; gebt bestimmten Befehl, überwachet die Ausführung und lasset kein Mittel unversucht, durch welches die wirkliche Beobachtung der von euch vorgeschriebenen Wartung und Pflege erleichtert werden kann. Warum sollte man dieselbe nicht theilen? Bei der herkömmlichen Erziehungsweise, bei der man lediglich das Physische berücksichtigt, erscheint, wenn nur das Kind leben bleibt und nicht dahinsiecht, alles Uebrige von geringer Bedeutung; allein hier, wo die Erziehung mit dem Eintritt in das Leben beginnt, ist das Kind schon von Geburt an Schüler, zwar nicht des Erziehers, aber der Natur. Die Aufgabe des sogenannten Erziehers besteht nur in einem ununterbrochenen Studium dieser ersten und wichtigsten Lehrmeisterin, und in der unausgesetzten Bemühung Alles aus dem Wege zu räumen, wodurch die Wirksamkeit derselben vereitelt werden könnte. Er überwacht den Säugling, er beobachtet ihn, er läßt ihn nicht aus den Augen; er sucht mit gespannter Wachsamkeit den ersten schwachen Schimmer der aufdämmernden Vernunft zu erspähen, wie die Muhamedaner beim Herannahen des ersten Viertels den Augenblick des Mondaufganges zu erspähen suchen.
    Wir werden zwar mit der Fähigkeit zu lernen, aber ohne irgend ein Wissen, ohne irgend eine Kenntniß geboren. Die an unvollkommene und erst halbfertige Organe gebundene Seele besitzt noch nicht einmal das Bewußtsein ihrer eigenen Existenz. Die Bewegungen und das Geschrei des neugeborenen Kindes sind wie mechanische Wirkungen, ohne Bewußtsein und freien Willen.
    Nehmen wir einmal an, daß ein Kind bei seiner Geburt die Größe und Kraft eines erwachsenen Menschen besäße, daß es so zu sagen völlig ausgerüstet aus dem Schooße seiner Mutter wie Pallas aus dem Haupte desJupiter, hervorginge: nun, ein solches Mannkind würde ein Bild vollkommener Geistesschwäche, ein Automat, eine unbewegliche und fast unempfindliche Natur sein. Es würde nichts sehen, nichts hören. Niemanden erkennen, ja es würde nicht einmal die Fähigkeit besitzen, die Augen dahin zu richten, wohin es blicken sollte. Es würde nicht allein keinen Gegenstand außer sich gewahren, sondern auch nicht im Stande sein, ihn auf das Sinnesorgan wirken zu lassen, welches die Wahrnehmung allein zu vermitteln vermag. Die Farben würden sich in seinen Angen, die Töne in seinen Ohren nicht unterscheiden lassen, die Berührung fremder Körper würde es nicht empfinden, es würde nicht einmal ein Bewußtsein davon haben, daß es selbst einen Körper besitzt; das Tastgefühl seiner Hände würde sich allein in seinem Gehirne wahrnehmen lassen; alle seine Empfindungen würden sich in einem einzigen Punkte vereinigen; es würde sich seine Existenz nur in einer ganz allgemeinen Empfindungsfähigkeit (sensorium) äußern, es würde nur eine einzige Vorstellung, die des eigenen Ich besitzen, auf welche es alle seine Empfindungen bezöge, und diese Vorstellung, oder vielmehr dieses dunkle Gefühl, würde es einzig und allein von einem gewöhnlichen Kinde unterscheiden.

    Ein solcher körperlich ganz ausgebildeter Mensch würde sich trotzdem nicht einmal auf seinen Füßen aufzurichten vermögen; lange Zeit würde er gebrauchen, ehe er nur lernte sich im Gleichgewichte zu erhalten; vielleicht würde er nicht einmal den Versuch machen, und man könnte das Schauspiel genießen, diesen großen starken und vierschrötigen Körper wie einen

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