Emil oder Ueber die Erziehung
sei, denselben nicht erkannt und sich schreiend an die Brust seiner Amme geschmiegt habe, was seiner Mutter ein mit Thränen vermischtes Lachen entlockt hätte. Was läßt sich nun thun, um ein Kind vor solchem Schrecken zu bewahren? Genau dasselbe, was Hektor thut, der den Helm aufdie Erde stellt und nun erst das Kind liebkost. In einem ruhigeren Augenblick dürfte man es nicht dabei bewenden lassen: man müßte sich dem Helme nähern, man müßte mit den Federn spielen, man müßte das Kind dazu bewegen, selbst sie anzufassen. Endlich müßte die Amme den Helm nehmen und ihn sich lachend auf den Kopf setzen, wenn es überhaupt die Hand einer Frau wagen dürfte, irgend ein Stück von Hektors Kriegsrüstung zu berühren.
Beabsichtige ich Emil an den Knall der Feuergewehre zu gewöhnen, so brenne ich zuerst das Zündpulver in der Pfanne einer Pistole ab. Diese plötzlich auflodernde und schnell wieder verlöschende Flamme, diese blitzartige Erscheinung ergötzt ihn. Ich wiederhole dasselbe Experiment unter Anwendung einer größeren Pulvermenge, nach und nach lade ich die Pistole ganz regelrecht mit alleiniger Fortlassung des Pfropfens, darauf lade ich sie stärker, und schließlich gewöhne ich ihn an Flinten-, Büchsen- und Kanonenschüsse, ja an die furchtbarsten Detonationen.
Ich habe die Bemerkung gemacht, daß sich die Kinder selten vor dem Donner fürchten, vorausgesetzt, daß die Schläge nicht zu heftig sind und dem Ohre nicht wirklich wehe thun. Diese Furcht bildet sich in ihnen erst dann, wenn sie eingesehen haben, daß der dem Donner vorausgehende Blitz Schaden anrichtet oder sogar hin und wieder tödtet. Wenn ihr merkt, daß ihnen die gewonnene Einsicht Furcht erweckt, so gebet euch Mühe, sie durch die Gewohnheit wieder zu beruhigen. Durch eine allmähliche und behutsame Steigerung kann man einem Erwachsenen wie einem Kinde eine sich nie verleugnende Unerschrockenheit einflößen.
Während der ersten Lebensstufe, wo Gedächtniß und Einbildungskraft noch völlig ruhen, ist das Kind nur auf das aufmerksam, was unmittelbar auf seine Sinne wirkt. Da seine Sinneseindrücke nun das erste Material seiner Kenntnisse ausmachen, so muß man es sich angelegen sein lassen, ihm dieselben in einer zweckentsprechenden Reihenfolge darzubieten, denn dadurch bereiten wir sein Gedächtniß vor, sie dereinst seinem Verstande in derselben Reihenfolge zu übergeben. Weil es nun aber eben nur auf seineSinneseindrücke aufmerksam ist, so genügt es für den Anfang, ihm den Zusammenhang derselben mit den Gegenständen, welche sie verursachen, recht anschaulich nachzuweisen. Es will Alles berühren, Alles betasten; widersetzt euch dieser Unruhe nicht; es verdankt ihr höchst notwendige Kenntnisse. Auf diese Weise lernt es die Wärme und Kälte, die Härte und Weichheit, die Schwere und Leichtigkeit der Körper kennen, lernt sich über ihre Größe, ihre Gestalt und ihre wahrnehmbaren Eigenschaften ein Urtheil bilden, indem es dieselben anschaut, betastet, behorcht, [28] vor allen Dingen aber die Wahrnehmungen seines Gesichtssinnes mit denen seines Tastsinnes vergleicht und sich gewöhnt, mit dem Auge schon im Voraus die Wirkung abzuschätzen, welche sie auf seine Finger ausüben müßten.
Nur durch die Bewegung lernen wir, daß es außer uns noch andere Dinge gibt, während wir wieder nur durch unsere eigene Bewegung die Vorstellung des Raumes gewinnen. Weil dem Kinde diese Vorstellung noch fehlt, so streckt es nach allen Dingen, die es ergreifen will, mögen dieselben so nahe sein, daß es sie fast berührt, oder sich in einer Entfernung von hundert Schritt befinden, ohne Unterschied die Hand aus. Die Mühe, welche es sich dabei gibt, erscheint euch vielleicht als ein Zeichen der Herrschsucht, als ein Befehl an den Gegenstand sich zu nähern, oder an euch, ihm denselben herbeizubringen und gleichwol liegen ihm solche Gedanken ganz fern; die Ursache liegt lediglich in dem Umstände, daß es die nämlichen Gegenstände, welche es zuerst in seinem Gehirn, darauf vor seinen Augen sah, jetzt in Armeslänge vor sich erblickt, und daß es sich nur die räumliche Ausdehnung vorzustellen vermag, von der es sich durch seinen Tastsinn überzeugen kann. Laßt es deshalb recht oft umhertragen und von einem Platz zum andern bringen und sorget vorAllem dafür, daß es auch die Ortsveränderung wahrnehme, damit es dadurch die Entfernungen beurtheilen lerne. Sobald es jedoch dieselben richtig zu schätzen beginnt, müßt ihr die Methode
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