Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
ändern und es nicht mehr nach seinem, sondern nur nach eurem eigenen Gefallen umhertragen, denn sobald es keinen Sinnestäuschungen mehr unterliegt, läßt es sich auch von anderen Beweggründen leiten. Diese Veränderung ist so bemerkenswerth, daß sie eine weitläufigere Erläuterung erfordert.
    Das Unbehagen, welches die sich einstellenden Bedürfnisse erregen, äußert sich, sobald sich zu ihrer Befriedigung fremde Hilfe nöthig macht, in gewissen Zeichen. Daher rührt das Schreien der Kinder; sie weinen viel und das muß so sein. Alle Eindrücke rufen bestimmte Erregungen hervor; sind dieselben angenehmer Natur, so erfreuen sich die Kinder derselben stillschweigend, sind sie dagegen schmerzlicher Natur, so geben sie es in ihrer Sprache zu erkennen und verlangen Linderung. So lange sie wach sind, können sie deshalb in keinem indifferenten Zustande verharren; entweder schlafen sie oder sind gewissen Erregungen unterworfen.
    Alle unsere Sprachen sind künstlich entstanden. Man hat weitläufige Untersuchungen angestellt, ob es eine natürliche und allen Menschen gemeinsame Sprache gebe. Unzweifelhaft gibt es eine solche, nämlich die, welche die Kinder sprechen, ehe sie reden können. Diese Sprache ist zwar unarticulirt, aber trotzdem accentuirt, klangvoll, leicht verständlich. Die Gewöhnung an die übliche Sprache der Erwachsenen hat sie uns bis zu dem Grade vernachlässigen lassen, daß wir sie völlig vergessen haben. Durch ein sorgfältiges Studium der Kinder werden wir sie ihnen bald wieder ablernen. Die Ammen können uns als Lehrerinnen dieser Sprache dienen; sie verstehen Alles, was ihre Säuglinge ihnen sagen, sie antworten ihnen und halten die lebhaftesten und zusammenhängendsten Zwiegespräche mit ihnen. Obwol sie dabei Worte aussprechen, tragen dieselben zum Verständnisse doch nicht das Geringste bei, denn nicht den Sinn der Worte fassen die Kinder auf, sondern den Ton und Ausdruck, mit dem sie ausgesprochen werden.
    Zu der Sprache der Stimme gesellt sich nicht weniger ausdrucksvolle Geberdensprache. Letztere wird nicht von den kraftlosen Händen der Kinder vermittelt, sondern steht leserlich auf ihren Gesichtszügen geschrieben. Es ist wunderbar, eines wie großen Ausdrucks schon diese wenig entwickelten Physiognomien fähig sind; jeden Augenblick verändern sich ihre Züge mit unbegreiflicher Geschwindigkeit. Blitzartig sieht man Lächeln, Verlangen, Schrecken auf denselben entstehen und wieder verschwinden; jedesmal glaubt man ein anderes Gesicht zu sehen. Unstreitig haben sie beweglichere Gesichtsmuskeln als wir, während dafür ihre glanzlosen Augen fast ausdruckslos sind. In einem Alter, wo man nur leibliche Bedürfnisse hat, kann es aber nur derartige Zeichen geben. Die äußeren Eindrücke spiegeln sich auf den Gesichtszügen, das Seelenleben in den Augen ab.
    Da Noth und Schwäche den ersten Zustand des Menschen kennzeichnen, so sind seine ersten Laute auch Klagetöne und Weinen. Das Kind fühlt seine Bedürfnisse und kann sie nicht befriedigen; es ruft durch sein Geschrei fremde Hilfe herbei. Wenn es hungert oder durstet, so weint es, wenn es an Kälte oder Hitze leidet, vergießt es ebenfalls Thränen; wenn es sich nach Bewegung sehnt und man es ruhig liegen läßt, müssen Thränen seinen Wunsch zu erkennen geben; wenn es schlafen will und man es in fortwährender Bewegung erhält, redet es wieder durch Thränen zu uns. Je weniger es sich selbst zu helfen weiß, desto unruhiger ist es. Es hat nur eine einzige Ausdrucksweise, weil es, so zu sagen, nur eine einzige Art des Unbehagens kennt; bei der Unvollkommenheit seiner Organe vermag es die verschiedenen auf sie ausgeübten Eindrücke nicht zu unterscheiden. Alle Leiden bereiten ihm nur eine einzige Empfindung, die des Schmerzes.
    Aus diesen Thränen, die man für so wenig der Beachtung werth halten möchte, entsteht die erste Beziehung des Menschen zu seiner ganzen Umgebung. Hierdurch wird das erste Glied dieser langen Kette geschmiedet, aus der die sociale Ordnung gebildet wird.
    Wenn das Kind weint, so leidet es; es fühlt irgendein Bedürfnis welches es nicht zu befriedigen vermag. Man sieht nach, man sucht zu entdecken, was ihm fehlt, man findet die Ursache, man entfernt sie. Wenn man sie aber nicht findet oder nicht zu entfernen vermag, so hält das Weinen an. Da dies lästig ist, so liebkost man das Kind, um es allmählich zu beruhigen und einzuschläfern; will dies aber nicht gelingen, und das Weinen hört nicht auf, so verliert

Weitere Kostenlose Bücher