Emil oder Ueber die Erziehung
man endlich die Geduld und versucht es mit Drohungen, ja rohe Ammen schlagen selbst das Kind bisweilen. Fürwahr eine sonderbare Erziehungsmethode bei seinem Eintritt ins Leben!
Nie in meinem Leben werde ich vergessen, wie ich einmal Augenzeuge gewesen bin, als eine Amme einen dieser unbequemen Schreihälse auf diese Weise mißhandelte. Er schwieg sofort, weshalb ich ihn für eingeschüchtert hielt. Das wird einst, sagte ich mir, eine knechtische Seele werden, von der man Alles nur durch Strenge wird erhalten können. Aber ich hatte mich getäuscht; das unglückliche Kind drohte zu ersticken, der Athem war ihm ausgegangen, ich sah, wie es immer röther wurde. Einen Augenblick darauf brach es in ein durchdringendes Geschrei aus. Alle Zeichen des Unwillens, der Wuth, der Verzweiflung dieses Alters gaben sich in diesen Tönen zu erkennen. Ich befürchtete, daß es bei dieser heftigen Aufregung den Geist aufgeben würde. Hätte ich sonst daran gezweifelt, daß das Gefühl für Recht und Unrecht dem Menschen angeboren wäre, dieses einzige Beispiel würde mich eines Besseren belehrt haben. Ich bin völlig überzeugt; daß diesem Kinde ein glühender Feuerbrand, welcher demselben zufällig auf die Hand gefallen wäre, weniger Schmerzen verursacht hätte, als dieser nur ganz leichte, aber in der unverkennbaren Absicht, es empfindlich zu strafen, gegebene Schlag.
Diese Neigung der Kinder zur plötzlichen Aufwallung, zum Aerger und zum Zorne erheischt die äußerste Schonung. Boerhave stellt die Behauptung auf, daß die Kinderkrankheiten größtenteils krampfartiger Natur sind, weil das Nervensystem der Kinder, da es verhältnißmäßig ausgedehnter und der Kopf größer und dicker als bei den Erwachsenen ist, auch eine größere Reizbarkeit besitzt. Mit dergrößten Sorgfalt muß man deshalb alle Dienstboten von ihnen fern halten, welche sie reizen, erzürnen und ungeduldig machen; sie sind ihnen hundertmal schädlicher und unheilvoller als die nachtheiligen Einwirkungen der Witterung und der Jahreszeiten. So lange die Kinder nur an den Dingen und niemals an den Launen ihrer Umgebung Widerstand finden, so lange werden sie weder eigensinnig noch zornig werden und sich einer dauerhafteren Gesundheit erfreuen. Darin liegt auch eine der Ursachen, weshalb die Kinder der niederen Volksklassen, die von Geburt an in größerer Freiheit und Unabhängigkeit aufgezogen werden, im Allgemeinen weniger schwächlich, weniger weichlich, sondern im Gegentheile kräftiger als diejenigen sind, welche man dadurch, daß man ihrem eigenen Willen beständig entgegentritt, angeblich besser erzieht. Aber man sollte stets bedenken, daß es ein großer Unterschied ist, den Kindern nicht zu gehorchen und ihnen nicht entgegenzutreten.
In dem ersten Weinen der Kinder liegt eine Bitte, so wie man aber die Vorsicht außer Acht läßt, verwandelt sie sich in einen Befehl. Haben sie sich anfänglich nur beistehen lassen, so wollen sie sich schließlich bedienen lassen. So entsteht grade aus ihrer Schwäche, der zunächst das Abhängigkeitsgefühl entspringt, später die Vorstellung des Befehlens und Herrschens. Da jedoch diese Vorstellung weniger durch ihre Bedürfnisse als durch unsere Dienstleistungen hervorgerufen wird, so beginnen sich hier die moralischen Wirkungen zu zeigen, deren unmittelbare Ursache keineswegs in der Natur zu suchen ist, und man sieht ein, weshalb es schon in diesem frühesten Lebensalter von Wichtigkeit ist, der geheimen Absicht nachzuforschen, welche die Kinder zu einer Geberde oder einem Schrei veranlaßt.
Wenn das Kind die Hand hastig und ohne etwas zu sagen ausstreckt, so steht es in dem Wahne den gewünschten Gegenstand erreichen zu können, weil es nicht im Stande ist die Entfernung richtig zu schätzen. Es befindet sich im Irrthum. Wenn es aber beim Ausstrecken der Hand klagt und weint, so täuscht es sich über die Entfernung nicht mehr, es befiehlt vielmehr dem Gegenstande, sich zu nähern,oder auch, ihm denselben zu bringen. Im erstern Falle muß man es langsam und mit kleinen Schritten zu dem Gegenstande hintragen; im zweiten Falle darf man es durchaus nicht thun, sondern muß sich stellen, als ob man es gar nicht verstehe; je mehr es schreit, desto weniger darf man darauf hören. Es ist wichtig, es schon früh daran zu gewöhnen, nicht commandiren zu wollen, weder den Menschen, denn es ist nicht ihr Herr, noch den Dingen, denn sie verstehen es nicht. Wenn deshalb ein Kind etwas, was es sieht, zu haben wünscht, und
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