Emil oder Ueber die Erziehung
Bilde jedoch Gefallen, so wird er sich bald nach einem ihm gleichenden Originale sehnen. Vom Wunsche zur Voraussetzung findet ein leichter Uebergang statt; es sind dazu nur einige geschickte Beschreibungen nöthig, welche durch etliche mehr in die Augen fallende Züge diesem Wesen der Phantasie den Charakter größerer Wahrheit verleihen. Ich würde selbst so weit gehen, demselben einen Namen beizulegen. Lächelnd würde ich zu ihm sagen: »Wir wollen deine künftige Geliebte Sophie nennen. Sophie ist ein Name von guter Vorbedeutung. Sollte diejenige, auf welche einst deine Wahl fallen wird, ihn auch nicht führen, so wird sie seiner doch wenigstens würdig sein; wir können ihr diese Ehre deshalb schon im Voraus erweisen.« Nach all diesen Einzelheiten werden sich seine Vermuthungen, wenn man sich anders seinem Forschen, ohne ja oder nein zu sagen, geschickt zu entziehen weiß, in Gewißheit verwandeln; er wird wähnen, man mache ihm aus der Gattin, die man für ihn bestimmt hat, nur ein Geheimniß, und er werde sie schon sehen, sobald es an der Zeit sein werde. Ist es mit ihm erst so weit gekommen, und hat man die Züge, die man ihm vor Augen führen muß, gut gewählt, so ist alles Uebrige leicht; man kann ihn fast ohne Gefahr in die Welt einführen; ihr braucht ihn nur vor seiner Sinnlichkeit zu schützen, sein Herz ist in Sicherheit.
Möge er sich nun das Musterbild, das ich ihm liebenswürdig zu machen verstanden habe, unter dem Bilde einer bestimmten Person vorstellen oder nicht, so wird es ihn doch, ist es nur gut gezeichnet, nicht weniger zu Allem hinziehen, was ihm ähnlich ist, und ihn nicht weniger mit Widerwillen gegen alles das erfüllen, was ihm unähnlich ist, als wenn es das Bild einer geliebten Person darstellte.In welche vortheilhafte Lage bin ich dadurch versetzt, sein Herz vor den Gefahren zu schützen, denen seine Person nothwendig ausgesetzt ist, seine Sinnlichkeit durch seine Phantasie im Zaume zu halten, und vor allen Dingen ihn den Händen jener Frauen zu entreißen, die es sich angelegen sein lassen, junge Männer zu erziehen, sich ihre Mühe aber gar theuer bezahlen lassen und die Ausbildung ihres Zöglings im äußern Austande nur dadurch zu Wege bringen, daß sie ihm gleichzeitig alle Ehrbarkeit rauben! Sophie ist so sittsam! Mit welchen Blicken wird er deshalb das herausfordernde Wesen jener betrachten? Sophie zeichnet sich durch so große Einfachheit aus! Wie könnte ihm das Betragen jener gefallen? Zwischen seinem Ideale und seinen Beobachtungen zeigt sich ein zu großer Abstand, als daß ihm jene Frauen je gefährlich werden könnten.
Alle diejenigen, welche über Kindererziehung sprechen, lassen sich von den nämlichen Vorurteilen und den nämlichen Grundsätzen leiten, weil sie eine schlechte Beobachtungsgabe und ein noch schlechteres Reflexionsvermögen besitzen. Die Verirrungen der Jugend haben weder in dem Temperamente noch in der Sinnlichkeit, sondern in den vorgefaßten Meinungen ihre Wurzel. Handelte es sich hier um Knaben, welche in Instituten, und um Mädchen, die in Klöstern ihre Erziehung erhalten, so würde ich den Nachweis führen, daß dies selbst im Hinblick auf diese vollkommen wahr ist; denn die ersten Unterweisungen, welche sie beiderseits erhalten, und die einzigen, welche auf fruchtbaren Boden fallen, sind die Unterweisungen im Laster; nicht die Natur, sondern das Beispiel verdirbt sie. Ueberlassen wir jedoch die Kostschüler der Institute und Klöster ihren schlechten Sitten. Für sie werden sich nie Heilmittel auffinden lassen. Ich rede hier nur von der häuslichen Erziehung. Nehmt einen im väterlichen Hause verständig erzogenen jungen Mann aus der Provinz und unterwerft ihn in dem Augenblicke, wo er in Paris ankommt oder in die Welt tritt, einer Prüfung. Ihr werdet euch davon überzeugen, daß er über alles Ehrbare richtige Gedanken hat, und daß sein Wille eben so gesund ist als seine Vernunft. Ihr werdet finden, daß er von Verachtungdes Lasters und von Abscheu vor Ausschweifungen erfüllt ist. Schon bei dem bloßen Namen einer Prostituirten werdet ihr in seinen Augen das Aergerniß aufleuchten sehen, welches die Unschuld nimmt. Ich behaupte, daß es auch nicht einen gibt, der sich entschließen könnte, allein die traurigen Wohnungen dieser Unglücklichen zu betreten, selbst wenn er ihren Zweck kennen und das Bedürfnis darnach fühlen sollte.
Sechs Monate später betrachtet nun aber denselben jungen Mann wieder; ihr werdet ihn nicht wiedererkennen.
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