Emil oder Ueber die Erziehung
Liebe erfülle.
Es gehört ein hoher Grad von Beschränktheit dazu, die erwachenden Begierden eines jungen Mannes lediglich als ein den Lehren der Vernunft sich entgegenstellendes Hinderniß aufzufassen. Ich meinerseits erblicke in ihnen gerade das wahre Mittel, ihn für die Lehren derselben recht empfänglich zu machen. Nur durch Leidenschaften läßt sich auf Leidenschaften wirken; durch ihre eigene Macht muß man ihre Tyrannei bekämpfen, und stets muß man der Natur selbst die Mittel entlehnen, welche sich zu ihrer Regelung eignen.
Emil ist nicht bestimmt, beständig ein einsames Leben zu führen. Als Glied der Gesellschaft hat er Pflichten gegen dieselbe zu erfüllen. Bestimmt mit Menschen zu leben, muß er sie auch kennen. Den Menschen im Allgemeinen kennt er zwar schon, nun bleibt ihm aber noch übrig, die Menschen im Einzelnen kennen zu lernen. Er weiß, was man in der Welt thut; nun muß er auch noch sehen, wie man in ihr lebt. Es ist nun an der Zeit, ihm auch die Außenseite der großen Schaubühne zu zeigen, deren Spiel er schon kennt, wenngleich es ihm bisher verhüllt war. Er wird ihr nicht mehr das thörichte Anstaunen eines jungen Laffen zuwenden, sondern mit der Urteilskraft eines gesunden und scharfen Verstandes vor sie treten. Seine Leidenschaften werden ihn auf Abwege führen können, das ist ja keinem Zweifel unterworfen; wann täuschten sie denn diejenigen nicht, welche sich ihnen überlassen? Aber er wird sich wenigstens nicht durch die Leidenschaften Anderer betrügen lassen. Wenn er sie bemerkt, wird er sie mit dem Auge eines Weisen betrachten, ohne durch ihr Beispiel hingerissen oder durch ihre Vorurtheile verführt zu werden.
Wie es ein Alter gibt, welches sich besonders zum Studium der Wissenschaften eignet, so gibt es wiederum eins, welches am meisten zur Erwerbung der Weltkenntniß geeignet ist. Wer sich dieselbe zu früh aneignet, läßt sich von ihr sein ganzes Leben hindurch leiten, ohne Wahl, ohne Ueberlegung und ohne bei all seinem Eigendünkel recht zu wissen, was er thut. Wer sie aber erwirbt, während er sich gleichzeitig über ihre Gründe Rechenschaft abzulegenvermag, folgt ihr mit mehr Einsicht und folglich auch mit mehr Sicherheit und tactvollerem Auftreten. Gebt mir ein Kind von zwölf Jahren, welches noch völlig unwissend ist, und ich will es euch im fünfzehnten mit eben so reichem Wissen ausgestattet zurückgeben, als dasjenige ist, welches ihr von seiner frühsten Jugend an unterrichtet habt, und noch dazu mit dem Unterschiede, daß sich das meinige sein Wissen mit dem Verstande angeeignet hat, während es bei dem eurigen nichts als Gedächtnißwerk ist. Eben so wird es sich verhalten, wenn man einen jungen Mann in seinem zwanzigsten Jahre in die Welt einführt; unter richtiger Leitung wird er in einem Jahre liebenswürdiger sein und einen vernünftigeren Anstand besitzen als derjenige, den man von Kindheit an in derselben erzogen hat; denn da der Erstere fähig ist, die Gründe zu dem in Rücksicht auf Alter, Stand und Geschlecht abgemessenen feinen Benehmen, das eben die Weltkenntniß ausmacht, einzusehen, so vermag er es auch auf feste Principien zurückzuführen und auf nicht vorhergesehene Fälle anzuwenden, während der Andere, der sich nur auf seine Routine verlassen kann, in Verlegenheit geräth, sobald ihm etwas davon Abweichendes entgegentritt.
Die jungen Mädchen werden in Frankreich ausnahmslos bis zu ihrer Verheirathung in Klöstern erzogen. Nimmt man aber wol wahr, daß es ihnen viele Mühe kostete, sich dann noch jenes feine gesellschaftliche Benehmen anzueignen, welches ihnen doch so neu ist? Kann man wol den Pariser Frauen ein linkisches und unbeholfenes Betragen zum Vorwurf machen und sie beschuldigen, daß ihnen die Umgangssitten fremd wären, weil sie sich nicht von Kindheit an in der großen Welt bewegt haben? Dieses Vorurtheil geht von den Weltmenschen selbst aus, welche, da sie nichts Wichtigeres als diese nichtige Wissenschaft kennen, sich fälschlich einbilden, man könne nicht früh genug mit der Erwerbung derselben anfangen.
Wahr ist indeß, daß man nicht allzu lange damit warten darf. Wer seine ganze Jugend fern von der großen Welt verlebt hat, behält zeitlebens ein verlegenes und gezwungenes Wesen, ergreift stets zur Unzeit das Wort undgewöhnt sich schwerfällige und unbeholfene Manieren an, die er nie abzulegen vermag und welche gerade durch das Bestreben, sich von ihnen loszumachen, nur neue Veranlassung zum Lachen geben. Jede Art
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