Emil oder Ueber die Erziehung
denAufenthalt daselbst gestatteten, und wie oft bin ich Zeuge gewesen, daß sie ihre Männer selbst davon zurückbrachten, mit größerer Freude abreisten, als sie gekommen waren, und den Tag vor ihrer Abreise gerührt sagten: »Ach, laß uns in unsere Strohhütte zurückkehren, man lebt glücklicher in ihr, als hier in Palästen!« Wer will wissen, wie viel edle Frauen es noch sonst gibt, die ihre Kniee nicht vor dem Götzenbilde gebeugt haben und seinen unsinnigen Cultus mit Verachtung strafen! Nur die Närrinnen machen viel Aufhebens von sich, verständige Frauen erregen kein Aufsehen.
Wenn sich trotz der allgemeinen Verderbniß, trotz der Vorurtheile, die sich überall eingeschlichen haben, trotz der schlechten Erziehung gleichwol nicht wenige Mädchen ein bewährtes Urtheil bewahren, bis zu einem wie hohen Grade würde sich dieses Urtheil erst entwickelt haben, wenn es durch geeignete Belehrungen genährt oder, um mich richtiger auszudrücken, nicht durch fehlerhafte Belehrungen getrübt worden wäre? Denn schließlich kommt doch Alles darauf an, das natürliche Gefühl zu bewahren oder wiederherzustellen. Dazu ist es aber durchaus nicht nöthig, daß ihr junge Mädchen mit langen Predigten langweilt und mit trocknen Sermonen überschüttet. Das Moralisiren ist bei beiden Geschlechtern der Tod aller guten Erziehung. Dergleichen trübselige Lehren führen nur dazu, sowol den, welcher sie ertheilt, als auch das, was sie enthalten, verhaßt zu machen. Wenn man es mit jungen Mädchen zu thun hat, darf man sie nicht mit Angst vor ihren Pflichten erfüllen, noch dadurch das Joch erschweren, welches ihnen die Natur auferlegt hat. Bei Darlegung dieser Pflichten befleißigt euch der Kürze und Deutlichkeit. Bringt ihnen nicht den Wahn bei, daß die Erfüllung derselben etwas Verdrießliches sei. Weg mit allem grämlichen Wesen, weg mit aller schulmeisterlichen Würde! Was zu Herzen gehen soll, muß von Herzen kommen. Ihr Katechismus der Moral muß sich durch gleiche Kürze und gleiche Deutlichkeit wie ihr Katechismus der Religion auszeichnen, darf aber nicht eben so ernst sein. Erläutert ihnen, wie in ihren Pflichten sowol die Quelle ihrer Freuden als auchder Grund ihrer Rechte liege. Ist es denn etwas so Lästiges, Liebe zu empfinden, um Liebe einzuflößen, sich liebenswürdig zu machen, um glücklich zu sein, sich Ansehen zu verschaffen, um Gehorsam zu finden, Anderen Ehre zu erweisen, um sich selbst geehrt zu sehen? Wie schön sind diese Rechte! Wie achtungswerth sind sie! Wie theuer werden sie dem Herzen des Mannes sein, wenn sich die Frau derselben zu bedienen versteht! Sie braucht nicht erst die Jahre und das Alter abzuwarten, um in ihren Genuß zu treten. Die Herrschaft der Frau beginnt mit ihren Tugenden. Kaum entfalten sich ihre Reize, so herrscht sie schon durch die Sanftmuth ihres Charakters und nöthigt uns durch ihre Sittsamkeit Achtung ab. Welcher sonst, gefühllose und rohe Mann sänftigt nicht sein ungestümes Wesen und zeigt sich entgegenkommender und nachgibiger im Verkehre mit einem liebenswürdigen und verständigen Mädchen von sechszehn Jahren, welches wenig spricht, aufmerksam zuhört, sich durch Sittsamkeit im Benehmen, durch Züchtigkeit in den Worten auszeichnet, das auch im Bewußtsein seiner Schönheit nicht einen Augenblick sein Geschlecht oder seine Jugend vergißt, ja das sogar durch seine Schüchternheit zu fesseln und sich die Achtung zu erwerben weiß, die es selbst Jedermann erweist? Obgleich diese Merkmale rein äußerlich sind, so fehlt es ihnen doch gleichwol nicht an Werth. Sie beruhen keineswegs auf bloßem Sinnesreize. Sie ergeben sich aus der inneren Ueberzeugung des Mannes, daß alle Frauen die natürlichen Richterinnen des Verdienstes der Männer sind. Wer wünschte wol, sich von den Frauen mißachtet zu sehen? Niemand in der ganzen Welt, nicht einmal derjenige, der sich vorgenommen hat, sie nicht mehr zu lieben! Und meint ihr etwa, daß mir, der ich ihnen doch so herbe Wahrheiten sage, ihr Urtheil in der That gleichgiltig ist? Im Gegentheile! Ihre Zustimmung ist mir werthvoller als die eurige, meine Leser, die ihr oft weit mehr Weiber seid als sie. Obgleich ich vor ihren Sitten keine Achtung hege, will ich ihre Gerechtigkeit doch in Ehren halten. An ihrem Hasse ist mir wenig gelegen, wenn ich sie nur zwinge mich zu achten.
Wie viel Großes ließe sich mit diesen Mitteln erzielen, wenn man sich ihrer richtig zu bedienen verstände. Wehe dem Zeitalter, in welchem die Frauen
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