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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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geschaffen. Sie wird die wahre Frau eines wahren Mannes sein. Nach Geburt und Verdienst ist sie ihm ebenbürtig, nach dem Vermögen aber steht sie unter ihm. Sie bezaubert nicht auf den ersten Blick, gefällt aber von Tage zu Tage mehr. Ihr größter Reiz wirkt erst nach und nach; er entfaltet sich nur in der Vertraulichkeit des Umgangs, und ihr Gatte wird ihn mehr als irgend ein Anderer empfinden. Ihre Erziehung ist weder glänzend noch vernachlässigt. Sophie hat Geschmack ohne große Gelehrsamkeit, Talente ohne künstlerische Ausbildung derselben, Urtheil ohne Kenntnisse. Ihr Geist besitzt nicht hohes Wissen, vermag aber alles Wissenswerte in sich aufzunehmen. Er ist ein gut zubereitetes Erdreich, welches nur des Samenkornes harrt, um reiche Frucht zu bringen. Außer dem Rechenbuche von Barrème und dem Telemach, welcher ihr zufällig in die Hände fiel, hat sie nie ein Buch gelesen. Allein kann sie wol als ein Mädchen, das im Stande war, sich für Telemach zu begeistern, ein Herz ohne Empfindung und einen Geist ohne Zartgefühl haben? O, liebenswürdige Unwissende, glücklich, wem das Loos zu Theil wird, dich zu unterrichten! Sie wird nicht dieLehrerin ihres Mannes, sondern seine Schülerin sein. Weit davon entfernt, ihn ihren Neigungen unterwerfen zu wollen, wird sie vielmehr die seinigen annehmen. Dadurch wird sie sich ihm theurer machen, als wenn sie Gelehrsamkeit besäße. Er wird die Freude haben, sie in Allem zu unterrichten. Es ist nun endlich an der Zeit, daß sie einander kennen lernen; wir wollen deshalb Sorge tragen, sie einander zu nähern.
    Traurig und träumerisch scheiden wir von Paris. Diese Stätte des ewigen Geschwätzes vermag uns nicht zu fesseln. Verächtlich blickt Emil auf die große Stadt zurück und sagt unwillig: »Wie viele Tage in vergeblichem Suchen verloren! Ach, hier ist es nicht, wo die Frau nach meinem Herzen weilt! Sie wissen es gar wohl, theurer Freund, doch ist Ihnen an meiner Zeit nichts gelegen, und an meinen Leiden nehmen Sie wenig Antheil.« Ich sehe ihn scharf an und sage zu ihm, ohne Aufregung zu verrathen: »Emil, glaubst du wirklich, was du da sagst?« Sofort fällt er mir voller Verwirrung um den Hals und drückt mich lautlos in seine Arme. Das ist stets seine Antwort, wenn er Unrecht hat.
    So ziehen wir denn als ächte fahrende Ritter durchs Land; nicht etwa insofern, daß wir wie jene auf Abenteuer ausgehen, vor denen wir vielmehr durch unsere Abreise von Paris die Flucht ergreifen, sondern in der Weise, daß wir ihre Irrfahrten nachahmen, uns an keine Regel bindend, bald mit verhängten Zügeln dahinsprengend, bald langsam einherschlendernd. Wer die Art und Weise, die ich einzuschlagen pflege, beobachtet hat, wird den Geist meiner Methode wol endlich begriffen haben, und ich setze außerdem voraus, daß keiner meiner Leser in so hohem Grade von der jetzigen Sitte eingenommen sein wird, um uns zutrauen zu können, daß wir Beide im bequemen und festverschlossenen Postwagen schnarchend auf der staubigen Landstraße daherrollen werden, ohne uns umzusehen und zu beobachten, indem wir den Zwischenraum vom Orte unserer Abreise bis zu dem der Ankunft gleichsam überspringen und trotz der Geschwindigkeit unserer Fahrt dochnur Zeit verlieren, während wir uns einbilden, Zeit zu ersparen.
    Man hört fortwährend die Behauptung, das Leben sei kurz, und dem gegenüber mache ich die auffallende Bemerkung, daß sich die Menschen geradezu anstrengen, es erst recht kurz zu machen. Da sie die Zeit nicht auszukaufen verstehen, beklagen sie sich über den eiligen Flug derselben und trotzdem sehe ich, daß sie ihrer Ansicht nach zu langsam dahinfließt. Ausschließlich mit dem Ziele beschäftigt, nach welchem sie streben, schauen sie mit Bedauern auf den Zwischenraum, der sie von demselben trennt. Der Eine wünscht, es möchte erst morgen sein, ein Anderer, es möchte ein Monat, wieder ein Anderer, es möchten zehn Jahre verflossen sein. Niemand will für heute leben, Niemand ist mit der Minute, in der er lebt, zufrieden, Allen scheint sie zu langsam dahinzuschleichen. Wenn sie sich beklagen, daß die Zeit zu schnell dahineile, so sprechen sie eine Lüge. Sie möchten gern Alles dahingeben, wenn sie dafür die Fähigkeit erlangen könnten, den Lauf der Zeit zu beschleunigen. Sie würden gern ihr Vermögen daran setzen, wenn sie ihr ganzes Leben in dieser Weise sprungweise verzehren könnten, und es würde vielleicht keinen Einzigen geben, der seine Lebensjahre nicht auf wenige Stunden

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