Emil oder Ueber die Erziehung
Sorgfalt nicht zum Unheile für Ihren Zögling ausschlagen! Ach, was er Ihnen zu verdanken hat, wird gerade die Quelle seines Elendes werden, wenn Sie nicht sein Glück vollenden.«
In Folge dessen habe ich mit Sophie eine Unterredung und entreiße ihr ohne viel Mühe ein Geheimniß, welches mir, noch ehe sie es mir enthüllt hatte, schon bekannt war. Schwieriger erlange ich die Erlaubniß, Emil davon Mittheilung machen zu dürfen. Schließlich erlange ich sie doch und mache von ihr Gebrauch. Ueber diese Erklärung geräth er in ein Erstaunen, von dem er sich gar nicht zu erholen vermag. Ein solches Zartgefühl ist ihm unverständlich. Er kann sich nicht vorstellen, wie einige Thaler mehr oder weniger auf Charakter und Verdienst von Einfluß sein sollen. Als ich ihm begreiflich zu machen suche, welchen Werth die Vorurtheile darauf legen, bricht er in Gelächter aus. Freudetrunken will er sich sofort auf den Weg machen, Alles zerreißen, Alles wegwerfen, auf Alles verzichten, nur um die Ehre zu haben, mit Sophie anArmuth wetteifern zu können und dadurch bei seiner Rückkehr würdig zu sein, ihr Gemahl zu werden.
»Wie!« sage ich, ihn zurückhaltend und nun ebenfalls über sein Ungestüm lachend, »wird denn dieser jugendliche Kopf nie zur Reife kommen? Wirst du nie ein richtiges Urtheil gewinnen, nachdem du dein ganzes Leben lang philosophirt hast? Wie, begreifst du nicht, daß du deine Lage nur verschlimmern und Sophie nur noch halsstarriger machen würdest, wenn du dein unverständiges Vorhaben zur Ausführung brächtest? Daß du einige Güter mehr besitzest als sie, räumt dir freilich einen kleinen Vorzug vor ihr ein; wolltest du ihr aber dieselben alle zum Opfer bringen, so würdest du einen sehr großen Vorzug vor ihr voraus haben. Wenn sich nun ihr Stolz schon nicht dazu verstehen kann, dir für die ersteren Dank schuldig zu sein, wie sollte er es wol über sich gewinnen, dir die letzteren zu verdanken zu haben? Wenn sie es nicht zu ertragen vermag, daß ihr je ihr Gatte den Vorwurf machen könnte, sie reich gemacht zu haben, wird sie dann wol ertragen können, je von ihm den Vorwurf zu vernehmen, daß er sich um ihretwillen in Armuth gestürzt habe? O, Unglücklicher, möge nie der Verdacht in ihr aufsteigen, daß du dich mit diesem Plane getragen hast! Werde im Gegentheile aus Liebe zu ihr haushälterisch und sorgsam, damit sie dich nicht beschuldigen kann, du wollest sie durch List gewinnen und ihr das, was du doch durch deine eigene Fahrlässigkeit verlieren würdest, als ein freies Opfer darstellen.«
»Glaubst du denn wirklich, daß ihr große Reichthümer Furcht einjagen, und daß ihr Widerstand gerade durch deinen Reichthum hervorgerufen wird? Nein, lieber Emil, die tiefere und mehr in das Gewicht fallende Ursache desselben liegt in der Wirkung, welche diese Reichthümer auf das Gemüth des Besitzers hervorbringen. Sie weiß, daß den Glücksgütern von ihren Besitzern der Vorzug vor allem Uebrigen gegeben wird. Allen Reichen gilt das Gold höher als das Verdienst. Bei dem gemeinsamen Einsatze von Geld und Dienstleistungen leben sie immer in dem Wahne, daß letztere unter dem Werthe derBezahlung bleiben, und sind überzeugt, daß man ihnen, wenn man auch sein ganzes Leben in ihrem Dienste verbracht, noch mehr als zu viel schulde, weil man ihr Brod gegessen habe. Was wirst du demnach zu thun haben, Emil, um sie von dieser Furcht zu befreien? Enthülle ihr dein ganzes Herz! Das ist allerdings nicht das Werk eines einzigen Tages. Zeige ihr in deiner edlen Seele die Schätze, welche sie über diejenigen zu trösten vermögen, die dir unglücklicherweise so reichlich zugefallen sind. Ueberwinde ihren Widerstand durch Beharrlichkeit und Zeit; zwinge sie durch erhabene und hochherzige Gesinnung, deine Reichthümer zu vergessen. Liebe sie, diene ihr, diene ihren ehrwürdigen Eltern. Beweise ihr, daß deine Aufmerksamkeiten nicht das Ergebniß einer thörichten und vorübergehenden Leidenschaft, sondern der Ausfluß der Grundsätze sind, die mit unauslöschlicher Schrift in der Tiefe deines Herzens eingegraben stehen. Bringe dein von der Glücksgöttin verletztes Verdienst in würdiger Weise zu Ehren, das ist das einzige Mittel, diese mit dem Verdienst zu versöhnen, welches sie auf diese Weise erst recht ins Licht stellen muß.«
Man kann sich vorstellen, in welches Entzücken diese Unterredung den jungen Mann versetzt, mit welcher Zuversicht und Hoffnung sie ihn erfüllt, wie sehr sein ehrliches Herz
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