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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Wangen, wenn er etwas weiß, was sie nicht weiß.
    Er ertheilt ihr also Unterricht in der Philosophie, in der Naturkunde, in der Mathematik, in der Geschichte, kurz in Allem. Sophie geht mit Freuden auf sein eifriges Bemühen ein und sucht daraus Nutzen zu ziehen. Wenn er es durchzusetzen vermag, daß er ihr den Unterricht vor ihr auf den Knieen liegend ertheilen darf, von welcher Glückseligkeit ist er dann erfüllt! Er glaubt den Himmel offen zu sehen. Gleichwol ist diese Lage, welche für die Schülerin noch peinlicher als für den Lehrer ist, für den Unterricht durchaus nicht die vorteilhafteste. Man weißdann nicht, wohin man die Augen richten soll, um die ihnen folgenden zu vermeiden; begegnen sie sich aber, so geht es mit dem Unterrichte deshalb nicht besser.
    Die Kunst zu denken ist den Frauen zwar nicht fremd, auf eine eingehendere Beschäftigung mit der Lehre vom Denken dürfen sie sich indeß nicht einlassen. Obgleich Sophie Alles begreift, bleibt doch nicht viel in ihr haften. Ihre größten Fortschritte macht sie in der Moral so wie in allen Dingen, bei welchen der Geschmack den Ausschlag gibt. In der Naturkunde behält sie nur einige allgemeine Gesetze und gewinnt daneben eine unklare Vorstellung vom Weltgebäude. Betrachten sie auf ihren Spaziergängen die Wunder der Natur, so wagen ihre unschuldigen und reinen Herzen sich bisweilen bis zum Schöpfer derselben zu erheben. Sie fürchten seine Gegenwart nicht, sie schütten mit einander ihr Herz vor ihm aus.
    Wie! Zwei Liebende in der Blüte ihres Lebens unterhalten sich bei ihrem vertraulichen Zusammensein von religiösen Dingen? Sie bringen ihre Zeit damit zu, ihren Katechismus aufzusagen! Wozu soll es dienen, das Erhabene in den Staub herabzuziehen? Ja, unstreitig thun sie es in der Illusion, die sie bezaubert hält: Jeder erblickt in dem Andern ein vollkommenes Wesen, sie lieben sich, sie unterhalten sich mit Begeisterung von dem, was der Tugend erst Werth verleiht. Gerade die Opfer, die sie derselben bringen, machen sie ihnen theuer. Bei den Ausbrüchen ihrer Leidenschaft, die sie besiegen müssen, weinen sie mitunter gemeinschaftlich Thränen, reiner als der Thau des Himmels, und diese süßen Thränen gießen über ihr ganzes Leben einen eigenen Zauber. Sie leben in dem süßesten Wahne, der sich je menschlicher Seelen bemächtigen kann. Selbst die Entbehrungen, die sie sich dadurch auferlegen, daß sie ihrer Leidenschaft widerstehen, erhöhen ihr Glück und gereichen ihnen in ihren eigenen Augen zur Ehre. Ihr sinnlichen Menschen, ihr Körper ohne Seele, dereinst werden sie auch eure Freuden kennen lernen und lebenslänglich jene glückliche Zeit zurückwünschen, wo sie sich ihnen nicht hingegeben haben!
    Ungeachtet dieses innigen Einverständnisses kommendoch bisweilen Meinungsverschiedenheiten, ja sogar kleine Zänkereien vor. Der Geliebten fehlt es nicht an Eigensinn, und der Geliebte braust leicht auf. Allein dergleichen kleine Stürme pflegen schnell vorüberzugehen und tragen nur dazu bei, die Eintracht zu befestigen. Die Erfahrung lehrt Emil, sich vor ihnen nicht allzu sehr zu fürchten. Die Versöhnungsscenen führen für ihn stets mehr Vortheil, als die Zwistigkeiten Nachtheil herbei. Die Frucht der ersten berechtigt ihn zu der Hoffnung, daß auch die folgenden beständig denselben Ausgang nehmen werden. Hierin täuscht er sich allerdings, allem wenn er am Ende auch nicht stets einen gleich augenscheinlichen Vortheil daraus zieht, so hat er doch immer den Gewinn, daß er dabei wahrnehmen kann, wie sich Sophiens aufrichtiges Interesse, welches sie an seinem Herzen nimmt, mehr und mehr befestigt. Man wünscht in Erfahrung zu bringen, worin denn dieser Gewinn besteht. Ich gehe auf Erfüllung dieses Wunsches um so lieber ein, als mir dieses Beispiel Veranlassung gibt, einen sehr nützlichen Grundsatz aufzustellen und einen höchst unheilvollen zu bekämpfen.
    Emil liebt, folglich ist er nicht verwegen. Noch besser wird man begreifen, daß die gebieterische Sophie nicht das Mädchen ist, ihm Freiheiten zu gestatten. Da indeß die Klugheit in allen Dingen ihre Grenze hat, so kann man Letztere weit eher einer zu großen Härte als einer zu großen Nachsicht zeihen, und selbst ihr Vater hegt mitunter die Besorgniß, daß ihr übertriebener Stolz noch in Hochmuth ausarten könne. Selbst in ihren geheimsten Zwiegesprächen würde sich Emil nicht erdreisten, sie auch nur um die geringste Gunstbezeigung zu bitten, ja er nimmt nicht einmal den

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