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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Anschein an, als ob er sich danach sehne. Wenn sie auf den Spaziergängen auch gern Arm in Arm mit ihm geht, ein Liebesbeweis, der aber nie den Charakter eines Rechts annehmen darf, so wagt er doch kaum bisweilen seufzend ihren Arm an seine Brust zu drücken. Nach langem Schwanken erkühnt er sich wol einmal verstohlenerweise einen Kuß auf ihr Kleid zu drücken, und hin und wieder ist er so glücklich, daß sie sich stellt, als ob sie es nicht bemerke. Als er sich jedoch eines Tages dieselbeFreiheit etwas offener herausnehmen will, kommt es ihr in den Sinn, sein Betragen höchst unartig zu finden. Er beharrt bei seinem Vorsatze und sie wird ärgerlich. Im Unwillen entschlüpfen ihr einige harte Worte, welche Emil nicht unerwidert läßt. Der Rest des Tages vergeht unter Schmollen und man scheidet sehr mißvergnügt.
    Sophie ist übler Laune. Ihre Mutter ist ihre Vertraute; wie sollte sie dieser ihren Kummer verhehlen? Es ist ihre erste Uneinigkeit, und eine einstündige Uneinigkeit ist eine gar wichtige Angelegenheit! Sie bereut ihren Fehler; die Mutter gibt ihr Erlaubnis, ihn wieder gut zu machen, und der Vater befiehlt es ihr.
    Voller Unruhe erscheint Emil am folgenden Tage etwas früher als gewöhnlich. Sophie hilft ihrer Mutter bei ihrem Anzuge, und der Vater befindet sich ebenfalls im Zimmer. Emil tritt ehrfurchtsvoll, aber mit trauriger Miene ein. Kaum haben ihn Vater und Mutter begrüßt, so dreht sich Sophie um und fragt ihn, während sie ihm die Hand reicht, mit zärtlichem Tone, wie er sich befinde. Es ist augenscheinlich, daß ihm dieses reizende Händchen so nur zum Kusse hingehalten wird. Er ergreift es zwar, küßt es aber nicht. Ein wenig beschämt zieht Sophie die Hand so anmuthig wie möglich zurück. Emil, der sich auf das Benehmen der Frauen nicht versteht und nicht begreift, wozu der Eigensinn nützt, vergißt nicht so leicht und beruhigt sich nicht so schnell. Als der Vater Sophiens Verlegenheit bemerkt, bringt er sie durch seine Scherzworte noch vollends in Verwirrung. Beschämt und gedemüthigt weiß die arme Sophie kaum noch, was sie thut, und würde die ganze Welt darum geben, wenn sie weinen dürfte. Je mehr sie sich zu beherrschen sucht, desto mehr schwillt ihr das Herz. Endlich entrinnt wider ihren Willen ihren Augen eine Thräne. Emil sieht diese Thräne, wirft sich vor Sophie auf die Kniee, ergreift ihre Hand und küßt sie zu wiederholten Malen leidenschaftlich. »Wahrhaftig,« sagt der Vater unter lautem Lachen, »Sie behandeln sie viel zu gütig; ich würde alle diese Tollheiten weniger nachsichtig aufnehmen und den Mund bestrafen, der mich beleidigt hätte.« Durch diese Rede ermuthigt, schaut Emildie Mutter bittend an, und da er ein Zeichen der Einwilligung wahrzunehmen glaubt, nähert er sich zitternd Sophiens Gesicht, die jedoch, um den Mund zu retten, den Kopf wendet und ihm ihre rosige Wange hinhält. Jetzt wird er jedoch zudringlich, will sich damit nicht zufrieden geben und findet auch nur schwachen Widerstand. Welch ein Kuß, wenn er nicht unter den Augen einer Mutter geraubt wäre! Strenge Sophie, sei auf deiner Hut! Er wird dich oft um Erlaubniß bitten, dein Kleid küssen zu dürfen, in der Hoffnung, daß du ihm mitunter seine Bitte abschlägst.
    Nach dieser exemplarischen Bestrafung verläßt der Vater eines Geschäftes wegen das Zimmer. Die Mutter schickt Sophie unter einem Vorwande hinaus, wendet sich darauf an Emil und sagt in gar ernstem Tone zu ihm: »Mein Herr, ich glaube, daß ein junger Mann von so guter Herkunft, der eine so vortreffliche Erziehung erhalten hat und sich sonst durch eine so edele Gesinnung und ein so sittlich reines Verhalten auszeichnet wie Sie, nicht darauf ausgeht, die Freundschaft, welche ihm eine Familie erweist, durch Entehrung derselben zu lohnen. Ich verlange weder übertriebene Zurückhaltung noch ein sprödes Wesen. Ich weiß, was man der lebhaften Jugend nachsehen muß. Der Vorgang, den ich unter meinen Äugen geduldet habe, beweist es Ihnen zur Genüge. Befragen Sie Ihren Freund über Ihre Pflichten. Er wird Ihnen erklären, welch ein Unterschied zwischen den Tändeleien, welche die Gegenwart eines Vaters und einer Mutter gutheißt, und den Freiheiten besteht, die man sich in ihrer Abwesenheit herausnimmt, indem man ihr Vertrauen mißbraucht und dieselben Gunstbeweisungen, die unter ihren Augen völlig unschuldig sind, in Fallstricke verwandelt. Er wird Ihnen erklären, mein Herr, daß sich meine Tochter Ihnen gegenüber kein anderes

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