Emil oder Ueber die Erziehung
dergleichen Auftritten gegenüber in Zukunft nachsichtiger, denn du bist auch schon einer ihrer Helden geworden.«
»Du kannst leiden und sterben. Bei physischen Leiden weißt du dich dem Gesetze der Notwendigkeit zu fügen, aber der Leidenschaft deines Herzens hast du noch kein Gesetz auferlegt, und doch liegt die Ursache zu der Störung unseres Lebens weit mehr in unseren Neigungen als in unsern Bedürfnissen. Unsere Wünsche sind sehr viel umfassend, während unsere Kraft völlig unzureichend ist. Des Menschen Wünsche hängen an tausenderlei Dingen, an und für sich hängt der Mensch dagegen an nichts, nicht einmal am Leben. Mit der Vermehrung seiner Neigungen nehmen auch seine Leiden zu. Alles ist nur geschaffen, um ein vergängliches Leben auf Erden zu führen. Früher oder später wird uns Alles entschlüpfen, was wir liebhaben, und trotzdem hangen wir daran, als ob es ewig dauern sollte. Welcher Schrecken überfiel dich bei dem bloßen Gedanken, Sophie könnte gestorben sein! Hast du denn wirklich erwartet, daß sie ewig leben könnte? Stirbt Niemand ihres Alters? Sie muß sterben, mein Kind, und vielleicht noch vor dir. Wer will wissen, ob sie in diesem Augenblicke noch lebt? Die Natur hatte dich nur einem einzigen Tode unterworfen; du selbst unterwirfst dich noch einem zweiten, und befindest dich nun in der Lage zweimal zu sterben.«
»Da du deinen regellosen Leidenschaften dergestalt unterworfen bist, wirst du bald aufrichtig zu bedauern sein. Stets Entbehrungen, stets Verluste, stets Unruhe! Nicht einmal an dem, was dir geblieben ist, wirst du einen rechten Genuß haben. Die Furcht, Alles zu verlieren, wird bewirken, daß du nie deines Besitzes froh wirst. Dafür, daß du nur deinen Leidenschaften hast nachgeben wollen, wird es dir nie möglich werden, sie zu befriedigen. Während du unablässig Ruhe suchst, wird sie beständig vor dir fliehen. Du wirst dich elend fühlen und schlecht werden. Und wie sollte es nicht dahin kommen, da du deine zügellosen Begierden als alleiniges Gesetz anerkennst? Wenn du unfreiwillige Entbehrungen nicht zu erdulden vermagst, wie willst du dann im Stande sein, dir freiwillig solche aufzuerlegen? Wie würdest du deine Neigung der Pflicht zum Opfer bringen und deinem Herzen widerstehen können, um deiner Vernunft Gehör zu geben? Du, der du schon den Ueberbringer der Todesnachricht deiner Geliebten nicht wiedersehen willst, wie würdest du den Anblick dessen zu erdulden vermögen, der sie dir lebend rauben wollte und sich dir zu sagen erkühnte: ›Sie ist todt für dich, die Tugend scheidet dich von ihr.‹ Wenn du einmal durchaus unter allen Umständen mit ihr leben mußt, gleich viel ob Sophie verheirathet ist oder nicht, ob du frei bist oder nicht, ob sie dich liebt oder haßt, ob man dir ihre Hand gewährt oder verweigert: so hat dies für dich Alles nichts auf sich, du willst sie einmal und mußt sie deshalb um jeden Preis besitzen. Sage selbst, vor welchem Verbrechen wird der wol zurückbeben, dernur die Wünsche seines Herzens als Gesetze anerkennt und sich nichts zu versagen weiß, was dasselbe begehrt?«
»Mein Kind, es gibt kein Glück ohne Muth, keine Tugend ohne Kampf. Das Wort Tugend wird von taugen abgeleitet, welches so viel wie tüchtig sein bedeutet. Die Tüchtigkeit, die innere Kraft, ist das Fundament aller Tugend. Die Tugend findet sich nur bei Wesen, die bei all ihrer natürlichen Schwäche doch Willenskraft besitzen. In letzterer allein besteht das Verdienst des rechtschaffenen Mannes. Obgleich wir Gott Güte zuschreiben, so verbinden wir mit seinem Wesen doch nicht den Begriff der Tugend, weil er keiner Anstrengung bedarf, um das Gute zu thun. Mit der Erklärung dieses so häufig gemißbrauchten Wortes habe ich so lange Anstand genommen, bis du im Stande warst, mich zu verstehen. [27] So lange die Uebung der Tugend keine Anstrengung kostet, braucht man sie noch nicht zu kennen. Die Nothwendigkeit stellt sich erst in dem Augenblicke heraus, wo die Leidenschaften erwachen: für dich ist derselbe jetzt gekommen.«
»Indem ich dich in aller Einfachheit der Natur erzog, habe ich dich, statt dir beschwerliche Pflichten zu predigen, vor Lastern bewahrt, welche diese Pflichten eben erst beschwerlich erscheinen lassen. Ich habe dir die Lüge weniger verhaßt als unnütz gemacht. Ich habe dir weniger eingeprägt, einem Jeden das Seine zu geben, als dich vielmehr dazu angehalten, dich nur um das Deine zu kümmern. Ich habe dich mehr zu einem guten als zu
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