Emil oder Ueber die Erziehung
Leidenschaftlichkeit, »weder Sie noch ein Anderer könnte mich dazu zwingen. Selbst wider Ihren Willen werde ich IhrWerk aufrecht zu erhalten wissen; nie werde ich diese Namen verdienen.«
Auf diesen ersten Wuthausbruch hatte ich mich gefaßt gemacht. Ich ließ ihn, ohne in Aufregung zu gerathen, vorübergehen. Besäße ich nicht selbst die Mäßigung, die ich ihm predige, so würde es mir übel anstehen, sie ihm zu predigen! Emil kennt mich zu genau, um mir zuzutrauen, daß ich je etwas Schlechtes von ihm verlangen könnte, und er weiß sehr wohl, daß er eine schlechte Handlung begehen würde, wollte er Sophie in dem Sinne verlassen, welchen er diesem Worte beilegt. Er erwartet also doch schließlich, daß ich mich endlich erkläre. Und so fahre ich in meiner Rede denn weiter fort:
»Kannst du dir vorstellen, lieber Emil, daß ein Mann, in welcher Lage er sich auch befinde, glücklicher sein könnte, als du es seit drei Monaten bist? Wenn du es glaubst, so erkenne deinen Irrthum. Sinnengenuß ist vorübergehend, der gewohnte Herzenszustand verliert stets dabei. Du hast in Hoffnung schon einen größeren Genuß gehabt, als dir je in Wirklichkeit zu Theil werden wird. Die Phantasie, welche den Gegenstand unseres Sehnens verschönt, ist bei dem Besitze in Unthätigkeit. Mit Ausnahme des einzigen Wesens, welches durch sich selbst existirt, ist nur das schön, was nicht ist. Wenn dein gegenwärtiger glücklicher Zustand hätte dauernden Bestand haben können, so würdest du das höchste Glück gefunden haben. Aber alles Menschliche ist hinfällig, Alles ist endlich, Alles im Menschenleben ist vorübergehend. Selbst wenn der Zustand, welcher uns glücklich macht, immer dauern würde, so müßte doch die Gewohnheit des Genusses denselben wesentlich abschwächen. Wenn auch äußerlich keine Aenderung eintritt, so ist doch das Herz einem Wechsel unterworfen. Das Glück verläßt uns oder wir verlassen das Glück.«
»Während deines Liebesglückes ist die Zeit, welche du zu messen vergaßest, verflossen. Der Sommer ist vergangen, der Winter steht vor der Thür. Könnten wir auch unsere Ausflüge während einer so rauhen Jahreszeitfortsetzen, so würde man es doch nie dulden. So ungern wir uns auch dazu bequemen, so müssen wir dennoch unsere Lebensweise ändern; unsere jetzige darf nicht länger so fortdauern. Deine ungeduldigen Blicke geben mir zu verstehen, daß du glaubst, diese Schwierigkeit leicht heben zu können. Sophiens Geständniß so wie dein eigenes Sehnen geben dir ein leichtes Mittel an die Hand, den Schnee zu vermeiden und der Wanderung zu ihrem Besuche überhoben zu sein. Dieses Hilfsmittel ist unstreitig bequem. Ist aber der Frühling gekommen, so schmilzt zwar der Schnee, doch die Ehe bleibt. Allein man muß sein Sinnen auf alle Jahreszeiten richten.«
»Du willst Sophie heirathen, obwol du sie noch nicht fünf volle Monate kennst. Du willst sie nicht deshalb heirathen, weil sie für dich paßt, sondern weil sie dir gefällt. Als ob sich die Liebe noch nie über die Angemessenheit getäuscht hätte, und als ob anfängliche Liebe noch nie in Haß umgeschlagen wäre! Sie ist tugendhaft, ich weiß es. Ist das aber schon ausreichend? Genügt Einsamkeit allein, um in der Ehe die Herzen auf das innigste zu verbinden? Nicht ihre Tugend ziehe ich in Zweifel, aber ihr Charakter flößt mir Bedenken ein. Läßt sich der Charakter einer Frau etwa in einem Tage erkennen? Weißt du, in wie viel Lagen man sie gesehen haben muß, um ihr Gemüth völlig zu durchschauen? Gibt eine viermonatliche Zuneigung eine Bürgschaft für das ganze Leben? Vielleicht hat sie dich schon nach einer Abwesenheit von zwei Monaten wieder vergessen. Vielleicht wartet schon ein Anderer nur auf deine Entfernung, um dich aus ihrem Herzen zu verdrängen. Vielleicht wirst du sie bei deiner Rückkehr eben so gleichgiltig finden, als du sie bis jetzt für deine Liebe empfänglich fandest. Die Gefühle haben mit den Grundsätzen nichts zu schaffen. Sophie kann sehr sittsam bleiben und trotzdem dich zu lieben aufhören. Ich glaube freilich annehmen zu können, daß sie in ihrer Liebe unwandelbar und treu sein wird. Wer aber bürgt dir für sie und wer bürgt ihr für dich, so lange ihr euch noch keiner gegenseitigen Probe unterworfen habt? Wollt ihr mit dieser Probe warten, bis sie euch überflüssig ist? Wolltihr, um euch kennen zu lernen, warten, bis ihr euch nicht mehr zu trennen vermögt?«
»Sophie zählt kaum achtzehn Jahre, während du
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